Im Blogbeitrag "Teheran hat mehr Sexappeal als Wien" war von der Institution der Zeit- oder Lustehe die Rede. Eine im schiitischen Islam erlaubte, rasche und unbürokratische Form der Eheschließung – für die Dauer von einer halben Stunde bis zu 99 Jahren. In der Islamischen Republik Iran wird die Zeitehe vom religiösen Establishment, mit dem Ziel, Prostitution und "westliche Dekadenz" zu bekämpfen, tatkräftig gefördert. Weite Teile der iranischen Gesellschaft lehnen sie allerdings als "anstößig" ab. Und ein Großteil der jungen, unverheirateten Iranerinnen und Iraner zieht es vor, auf die legale und unbürokratische Befriedigung ihrer Lust via Zeitehe zu verzichten, und ihre Sexualität abseits des religiösen Gesetzes zu leben.

Die "Kultur" ist nicht immer die Spielverderberin

Die Ablehnung der Zeitehe durch weite Teile der iranischen Gesellschaft scheint eine zentrale These Sigmund Freuds, wonach die "Kultur" – sprich die Gesellschaft respektive die Zivilisation – die Triebnatur des Menschen unterdrückt und seinem Streben nach Glück im Wege steht, auf den Kopf zu stellen. Die Menschen im Iran, denen "ihre Kultur" – also die Gesetze des schiitischen Islam, der Staatsreligion des Iran – ein Maximum an sexueller Lust im Rahmen der Zeitehe erlaubt, ja geradezu gebietet, scheinen um jeden Preis an der Unlust festhalten zu wollen. Oder an weniger Lust. Etwa im Rahmen nicht-ehelicher Lebensgemeinschaften, im Iran "weiße Ehen" genannt, deren zunehmende Verbreitung in den offiziellen Medien des Landes intensiv diskutiert wird. "Weiße Eheleute" entscheiden sich gegen die in der Zeitehe den Männern gestattete synchrone und Männern und Frauen erlaubte serielle Polygamie – und nehmen dabei auch noch das Risiko drakonischer, archaischer Strafen in Kauf.

Die "Kultur" sieht Freud allerdings nicht immer nur in der Rolle der Spielverderberin und Triebunterdrückerin. So spricht er etwa in "Massenpsychologie und Ich-Analyse" von der Erweckung "alle[r] grausamen, brutalen, destruktiven Instinkte [...] zur freien Triebbefriedigung"¹ in der Masse. Wobei er nicht bloß unorganisierte und flüchtige, sondern auch dauerhafte und organisierte Formationen als "Masse" bezeichnet. Namentlich das Heer und die Kirche. Heer und Kirche aber sind für Freud Institutionen der Kultur.

In jüngerer Zeit hat Robert Pfaller eine Neuinterpretation des psychoanalytischen Begriffs der "Sublimierung" gewagt und gezeigt, dass die Psychoanalyse "Kultur" auch als eine Instanz zu denken vermag, die (sexuelle) Lust nicht immer nur unterdrückt, sondern unter Umständen ihre Befriedigung – ganz im Gegenteil – überhaupt erst ermöglicht. Kultur hat laut Pfaller das Potential, "... Dinge, die anstößig oder abstoßend erscheinen, durch einen Kunstgriff in etwas zu verwandeln, das [...] Freude bereiten kann [...] [und] aus diesen Dingen etwas Sublimes"² zu machen. Anders als die herkömmliche Psychoanalyse fasst Pfaller Sublimierung nicht als eine Leistung der Individuen auf, die sexuelle Triebenergien für "höhere" kulturelle Ziele nutzbar macht. Für ihn ist Sublimierung vielmehr jener Prozess, durch den die "Kultur" – sprich die Gesellschaft – ein bestimmtes Objekt, das uns zunächst abstoßend erscheinen mag – wie etwa einem Kind der Geschmack von Whiskey – in etwas Sublimes und Genießbares verwandelt.

Gebotener Exzess

Den Gedanken, dass Kultur die Lust nicht nur unterdrücken, sondern unter Umständen auch fördern oder gar gebieten kann, finden wir allerdings schon bei Freud, der die – von Ethnologen in bestimmten Stammesgesellschaften beobachtete Institution der – "Totemmahlzeit" einen "gebotenen Exzess" nennt. Bei der Totemmahlzeit wird das Totemtier, dessen Töten und Verzehr unter normalen Bedingungen streng untersagt ist, "bei feierlichem Anlasse auf grausame Art" getötet und roh verzehrt. "Nach der Tat wird das hingemordete Tier beweint und beklagt [...] Aber nach dieser Trauer folgt die lauteste Festfreude, die Entfesselung aller Triebe und die Gestattung aller Befriedigungen."

Für Freud ist die Kultur keine Spielverderberin oder Triebunterdrückerin.
Foto: Reuters

Und dann: "Ein Fest ist ein gestatteter, vielmehr gebotener Exzess, ein feierlicher Durchbruch eines Verbotes. Nicht weil die Menschen [...] froh gestimmt sind, begehen sie die Ausschreitungen, sondern der Exzess liegt im Wesen des Festes; die festliche Stimmung wird durch die Freigebung des bisher Verbotenen erzeugt."³

Das geopferte Totemtier repräsentiert für Freud den Urvater, die Zentralfigur in seiner an Darwin angelehnten theoretischen Fiktion über den Ursprung der Kultur. Der Urvater war absoluter Herrscher über die Urhorde, der Urform der menschlichen Gesellschaft, und nach Vertreibung aller seiner Söhne alleiniger Besitzer aller Frauen der Horde.

Wenn Gott tot ist, ist alles verboten

"Eines Tages taten sich die ausgetriebenen Söhne zusammen, erschlugen und verzehrten den Vater"⁴, um nun ihrerseits in die Position des Urvaters und in den Besitz und den Genuss der Frauen zu gelangen. Dieses (Trieb)ziel musste die sexuelle Revolution der Söhne aber verfehlen. Oder sie erreichte es nur partiell. Nicht bloß, weil nur einer der Söhne die Position des Ermordeten hätte einnehmen können. Nach dem Mord am – nicht nur verhassten, sondern auch beneideten und bewunderten – Urvater wurde die Schar der Brüder von Schuldgefühlen und Reue überwältigt.

"Der Tote wurde nun stärker als der Lebende gewesen war"⁵. Und schließlich zu Gott, der – so betrachtet – immer schon tot war, da er, um Gott zu werden, erst sterben musste. "Wenn Gott tot ist", sagt Jaques Lacan, "ist alles verboten".

Das theoretische Potential der Fiktion

Für Freud ist jedenfalls der Mord am Urvater eine "Tat, mit welcher so vieles seinen Anfang nahm, die sozialen Organisationen, die sittlichen Einschränkungen und die Religion"⁶, mit anderen Worten: Die Kultur. Die Schuldgefühle und die Reue der Brüder, und ihre Rücksicht auf das Gemeinwohl, begründeten jenen Triebverzicht, den die Kultur nach Freud von den Menschen verlangt und der ihrem Streben nach Glück im Wege steht.

Heute wird Freuds Theorie von der Urhorde als Mythos bezeichnet und gilt als überholt. Wörtlich genommen kann sie schon deshalb nicht Gültigkeit beanspruchen, weil sie – wie alle Erklärungsversuche des Ursprungs – die triviale Frage nach dem Ursprung des Ursprungs offen lassen muss: Wo und wie ist der Urvater selbst, der ja auch einmal Sohn gewesen sein muss, aufgewachsen? Wurde er vertrieben? Hat er seinerseits gegen den "Urgroßvater" rebelliert und ihn ermordet? Fragen, die sich nicht beantworten lassen, ohne die Theorie umzuschreiben.

Dennoch: Auch als theoretische Fiktion haben Freuds Spekulationen über die Urhorde das Potential, neue Schlaglichter auf die Geschichte der großen gesellschaftlichen Umwälzungen und Revolutionen in ihrem Verhältnis zur Sexualität zu werfen. Allgemeiner: auf das Verhältnis zwischen Sexualität und Gesellschaft.

Freud, schreibt Adorno, sei "in den innersten psychologischen Zellen auf Gesellschaftliches wie das Inzestverbot [und] die Verinnerlichung primitiver Hordenformen gestoßen."⁷ Für Adorno ist das Gesellschaftliche, dem Freud im Unbewussten – in jenen "innersten psychologischen Zellen" – begegnet sei, jener Urhorde etwa, ein Archaisches, das sich in der Gegenwart immer wieder aufs Neue reproduziert.

Von hier aus können wir das Gedankenexperiment wagen, die komplexe Beziehung zwischen Sexualität und Gesellschaft, zwischen Sexualität und gesellschaftlichen Umwälzungen, Emanzipationsbestrebungen und Revolutionen mit dem "Urhorden-Schema" zu konfrontieren.

Macht und Genuss

Die Revolution gegen den Urvater musste scheitern. Zum einen, weil nicht alle Brüder zum neuen Urvater werden konnten. Zum anderen: Weil einige es sehr wohl werden konnten. Der Urvater selbst muss ja, wie erwähnt, selbst einmal Sohn gewesen sein. In der Fiktion von der sexuellen Revolution der Söhne sind demnach zwei mögliche Ausgänge vorstellbar. Nummer eins: Die von Reue und Schuldgefühlen überwältigten Söhne verinnerlichen den ermordeten Urvater und legen sich sittliche Einschränkungen auf. Es entsteht eine asketische – in der Sprache der Psychoanalyse vom Über-Ich beherrschte – Kultur. Ausgang Nummer eins möchte ich "Die Tyrannei des Über-Ichs" nennen.

Ausgang Nummer zwei: Einer der Söhne, oder eine Gruppe von ihnen, ergreift die Macht und wird zum neuen Urvater beziehungsweise zu den neuen Urvätern. Womöglich mit noch mehr Machtfülle als der erste. Mit der Macht ist auch jener "volle Genuss" verknüpft, der Besitz aller Frauen, um den die Söhne den ersten Urvater beneidet und weshalb sie jene Ur-Revolution angezettelt hatten. Nennen wir diesen zweiten Ausgang, der uns bei Freud selbst nicht begegnet, "Rückfall ins Ur-Patriarchat".

Es ist aber noch ein dritter Ausgang denkbar, den Freud ebenfalls nicht in Betracht zieht, und der über die Alternative, "Genuss gibt es entweder für den oder die Herrschenden oder für niemanden", hinausgeht. In dieser Variante zielt die Emanzipation vom Ur-Patriarchat nicht bloß auf die Überwindung der Institution des Urvaters. Sondern auf die Auflösung jener fixen Verknüpfung zwischen Sexualität und Macht, zwischen Genießen und Herrschen. Sprich: auf die Überwindung des Patriarchats. Nennen wir diese dritte Variante die "Befreiung der Liebe".

Wagen wir nun das angekündigte Experiment, die Geschichte der großen Umwälzungen und Revolutionen in ihrem Verhältnis zur Sexualität mit dem Urhorden-Schema zu konfrontieren, dann stoßen wir bald im Sinne der "Tyrannei des Über-Ichs" auf starke Momente der Askese. Aber auch auf das Moment der "Befreiung der Liebe".

"Erweiterung des bürgerlichen Bordells"

Alexandra Kollontai, Kommunistin, Feministin – und erste Ministerin der Geschichte – trat nach der Oktoberrevolution für die freie Liebe, die Abschaffung der Ehe und die radikale Emanzipation der Frauen ein. Und setzte zusammen mit Gleichgesinnten so manches durch. Das Scheidungsrecht der jungen Sowjetunion war damals das liberalste der Welt, die Abtreibung wurde legalisiert, uneheliche und eheliche Kinder rechtlich gleichgestellt.

 Lenin, nicht wirklich ein Freund der sexuellen Befreiung, hielt dagegen. "Turnen, Schwimmen, Wandern, Lernen, Studieren [...] Das alles wird der Jugend mehr geben als die ewigen Diskussionen über sexuelle Probleme und das so genannte Ausleben. Gesunder Körper, gesunder Geist!" sagte er zur deutschen Kommunistin Clara Zetkin. Und: "Obwohl ich nichts weniger als ein finsterer Asket bin, erscheint mir das sogenannte 'neue sexuelle Leben' der Jugend – manchmal auch des Alters – oft genug als eine Erweiterung des bürgerlichen Bordells."

In den 30er-Jahren wurde dann, unter Stalin, eine "neue" sittenstrenge und sinnenfeindliche Moral propagiert, mit dem Ziel die sowjetische Jugend abzuhärten und zur Disziplin zu erziehen.

Unter Stalin erfolgte die Propaganda einer geregelten Moral.
Foto: APA/AFP/VANO SHLAMOV

"Um mich auf jeder Welle deines schönen Leibes zu brechen"

Während der Französischen Revolution vertrat Georges Danton die Sache der freien Liebe. Glück war für ihn als Epikureer ohne Liebe und ohne Liebeslust nicht zu haben. Weder auf der individuellen noch auf gesellschaftlicher Ebene.

In Georg Büchners Drama "Dantons Tod" sagt er zu Marion, eine seiner Geliebten: "Ich möchte ein Teil des Äthers sein, [...] um mich auf jeder Welle Deines schönen Leibes zu brechen."

Die "Tyrannei des Über-Ichs" verkörperte hingegen der – auch im Privaten – sittenstrenge Robespierre, der Danton schließlich hinrichten ließ. Robespierre war als Anhänger Rousseaus von der "tugendhaften Natur" des Menschen überzeugt. Sah die "natürliche Tugend" aber stets durch Feinde der Tugend bedroht. Und um die Menschen davon abzuhalten, vom "natürlichen" Pfad der Tugend abzuweichen, kannte er ein probates Mittel: Die Herrschaft  des Terrors.

Eines hatten Robespierre und Danton aber gemeinsam: Ihre Revolution war – wie schon die Ur-Revolution gegen den Urvater – reine Männersache. Freiheit und Gleichheit meinten, wie das dritte Ideal Brüderlichkeit unmissverständlich klarstellt, Freiheit und Gleichheit der Männer.

Für Olympe de Gouges, Schriftstellerin und Feministin der ersten Stunde, war die neugegründete Republik daher nichts anderes als Tyrannei. Sie verfasste eine "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" und forderte die Nationalversammlung auf, diese zu verabschieden. Vergeblich. "Die Frau", schrieb sie, "hat das Recht, das Schafott zu besteigen. Gleichermaßen muss ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednertribüne zu besteigen". 1793 bestieg sie das Schafott. Das Wahlrecht erhielten die Französinnen 1944.

"Kopftuch oder Schläge auf den Kopf"

Das Moment der "Befreiung der Liebe" begegnet – man höre und staune – auch in der islamischen Revolution im Iran 1979. Wie schon in der liberalen, konstitutionellen Revolution der Jahre 1905 bis 1911 hatten Frauen in dieser Revolution eine herausragende Rolle gespielt. Als sich, wenige Wochen nach dem Sieg der Revolution, die Zeichen für die Einführung des Kopftuchzwangs mehr und mehr verdichteten, gingen zehntausende Frauen auf die Straße, um zu protestieren – und skandierten Parolen wie: "Wir haben die Revolution nicht gemacht, um in die Vergangenheit zurückzukehren".

Die Antwort der männlichen Anhänger der neuen islamischen Machthaber war knapp und klar: "Ya rusari – Ya tusari": "Entweder Kopftuch – Oder Schläge auf den Kopf". Woraufhin die Frauen skandierten: "Na rusari – Na tusari – Hukumate dust-pessari". Ins Deutsche lässt sich die Parole schwer übertragen. Sinngemäß übersetzt lautet sie etwa: "Weder Kopftuch – Noch Schläge –  Es lebe die  freie Liebe". Die wörtliche Übersetzung klingt holprig – und erfrischend skandalös: "Weder Kopftuch – Noch Schläge – Her mit dem Liebhaber-Regime".

Bedenkt man, was später geschah, scheint die Parole "Wir haben die Revolution nicht gemacht, um in die Vergangenheit zurückzukehren", genauso wie die Gegenparole "Entweder Kopftuch – Oder Schläge auf den Kopf" auf den "Rückfall ins Ur-Patriarchat" hinzuweisen. Auf die von den Frauen artikulierte Angst vor dessen Rückkehr scheint die Stimme eben dieses Ur-Patriarchats zu antworten. Und die Angst der Frauen zu bestätigen: "Entweder Kopftuch – Oder Schläge".

Sollte die Reproduktion des Ur-Patriarchats als Institution irgendwo in der Gegenwart tatsächlich existieren, wäre die Praxis der Zeitehe im heutigen Iran der exemplarische Fall davon. (Sama Maani, 28.6.2017)

Fortsetzung folgt.

¹ Sigmund Freud, Massenpsychologie und Ich-Analyse. In ders., Gesammelte Werke, Bd XIII, Frankfurt am Main 1999, S. 84
² Robert Pfaller, Das schmutzige Heilige und die reine Vernunft. Symptome der Gegenwartskultur. Frankfurt am Main 2008, S. 127
³ Sigmund Freud, Totem und Tabu. In ders., Gesammelte Werke, Bd IX, Frankfurt am Main 1999, S. 169 f
⁴ Ebd. S. 171
⁵ Ebd. S. 173
⁶ Ebd. S. 172
⁷ Theodor W. Adorno, Soziologische Schriften I. In: ders., Gesammelte Schriften, Bd 8, Frankfurt am Main. 2003, S. 88

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