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Das unabhängige, globale Netzwerk Cochrane möchte durch systematische Übersichtsarbeiten "Evidenz" in die Medizin bringen.

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Verena Ahne bloggt für derStandard.at regelmäßig über das Ringen um gesicherte Erkenntnisse in Medizin und Gesundheitswesen.

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Wenn ich erzähle, dass ich für Cochrane arbeite, eine Organisation, die sich für evidenzbasierte Medizin einsetzt, schiebt sich in die meisten Gesichter ein großes Fragezeichen: Kock-wie? Evi-was? Weil ich das inzwischen weiß, schicke ich sofort ein paar erklärende Sätze hinterher: dass Cochrane eine weltweit tätige, von Pharmaindustrie und anderen Interessen unabhängige Non-Profit-Organisation ist. Dass Cochranes Hauptarbeit darin besteht, systematische Übersichtsarbeiten zu erstellen – was bedeutet, dass alle Studien zu einem Thema durchgesehen, kritisch bewertet und rechnerisch zusammengefasst werden; dass sich erst durch solche Zusammenfassungen klar sehen lässt, ob oder wie gut eine Behandlungsmethode oder ein Arzneimittel tatsächlich wirkt.

Ich erwähne, dass der Großteil aller Studien schlecht gemacht ist und das Ergebnis der Zusammenfassungen deshalb oft frustrierend einsilbig lautet: "Aufgrund der bisher vorliegenden Arbeiten können wir nicht sagen…" Das heißt: Die Evidenz, also die eindeutige wissenschaftliche Beweislage für eine behauptete Wirkung oder Empfehlung, ist nicht zufriedenstellend oder fehlt sogar. Ein weiterer Standardsatz in Cochrane-Reviews lautet deshalb: Es braucht mehr und besser gemachte Studien.

Archibalds Erbe

Die Idee, durch systematische Übersichtsarbeiten "Evidenz" in die Medizin zu bringen, entstand in England im vorigen Jahrhundert. Dort hatte ein gewisser Archibald Cochrane jahrzehntelang die Medizin gegeißelt: Viele der täglich angewandten Therapien, wiederholte nimmermüde der 1909 geborene streitbare Schotte, seien nicht ausreichend gut untersucht. Die wenigen Studien, die es gebe, seien schlecht gemacht, Ärzte würden aus dem Bauch heraus entscheiden, wie sie behandeln, ohne objektives Wissen, was für ihre Patientinnen und Patienten am besten sei.

1972 veröffentlichte Cochrane ein kleines Büchlein, das einen Stein ins Rollen brachte: Das Gesundheitswesen, forderte der Arzt und Epidemiologe, solle seine begrenzten Mittel nur noch für Therapien verwenden, deren Wirksamkeit in guten Studien belegt ist. Ein paar Jahre später stellte er fest, dass sich Mediziner kaum selbst durch die wachsende Flut an Studien kämpfen oder beurteilen könnten, welche Arbeiten gut gemacht seien. Er regte deshalb an, dass alle relevanten Arbeiten zu einem Thema regelmäßig kritisch zusammengefasst und bewertet werden sollten. Kurz nach Archibalds Tod, im Jahr 1990, wurde die erste solche Zusammenfassung veröffentlicht: über Frühchen und Kortison.

Kortison für die Lungenreifung

Studien hatten Hinweise darauf gegeben, dass zu früh geborene Babys bessere Überlebenschancen haben, wenn die Mutter vor der Geburt Kortison bekommt. Die Winzlinge schienen dann besser atmen zu können. Eindeutig waren die Zahlen aber nicht. Erst das Zusammenrechnen der Daten aus mehreren Studien – eine der ersten "Meta-Analysen" der Medizingeschichte – machte aus der Vermutung Gewissheit: Die Sterblichkeit von Frühchen sinkt mit Kortison deutlich. Seither erhalten alle Frauen bei einer drohenden Frühgeburt Kortison, um die Lungenreifung der Babys zu beschleunigen.

Die Arbeit war der erste große Erfolg der bald darauf so benannten "evidenzbasierten Medizin" (EBM). Sie wurde zum Grundstein der Cochrane-Vereinigung, die 1993 gegründet und nach dem großen Archie benannt wurde, und hat sogar das Cochrane-Logo inspiriert.

Ein steiniger Weg

Seither hat sich viel getan. Heute arbeiten weltweit tausende Menschen ehrenamtlich (und ein paar angestellt) für Cochrane. Cochrane-Fachleute beraten das Gesundheitswesen und die WHO, erstellen evidenzbasierte Behandlungsleitlinien, übersetzen ihre Ergebnisse in eine allgemein verständliche Sprache. Unter anderem ist die Website Medizin-transparent.at ein Cochrane-Projekt, in dem wir medizinisches Wissen auf "Evidenz" prüfen und die Ergebnisse für die Bevölkerung aufbereiten.

Doch trotz der großen Erfolge ist der Weg der EBM nicht steinfrei. Wer unabhängig und kritisch Studien prüft, macht etablierten Fachgesellschaften mit ihrer nicht selten "Eminenz"-basierten Medizin nicht nur Freude. Und so manche Expertin, mancher Arzt, deren Studium viele Jahre zurückliegt, fällt es schwer, alte Gewohnheiten vulgo Erfahrung zu hinterfragen, nur weil die Evidenz für diese Therapie eigentlich fehlt…. So wurde ich von unserer Kinderärztin als fahrlässig beschimpft, als mein Sohn Mittelohrentzündung hatte und ich ihm nicht sofort Antibiotika geben wollte. Dabei hat ein Cochrane-Review gezeigt, dass es in den meisten Fällen (wie auch in unserem) sinnvoller ist zuzuwarten. Und mein ansonsten hoch geschätzter Hausarzt lässt sich nicht davon abbringen, mich zum Magnesium-Schlucken oder routinemäßigem Bestimmen von Vitamin-D-Blutwerten zu drängen, obwohl es für die Sinnhaftigkeit beider Maßnahmen keine Belege gibt.

Braucht es ein neues Logo?

Natürlich sind auch Cochrane-Empfehlungen nicht in Stein gemeißelt. Sie werden laufend geprüft und an neue Erkenntnisse angepasst.

2014 haben zwei Mediziner gewarnt, dass in Ländern mit schlechter Ernährungslage und schlechterer medizinischer Infrastruktur die routinemäßige Gabe von Kortison bei einer Frühgeburt wenig hilfreich, möglicherweise sogar gefährlich sein könnte. Cochrane nahm sich deshalb die Daten noch einmal vor. Im März 2017 erschien ein Update des berühmten Kortison-Reviews mit einer Änderung: Für nicht-westliche Länder gebe es keine Evidenz für die Kortison-Empfehlung, heißt es darin. Und, wie so oft: Hier brauche es mehr und bessere Studien. (Verena Ahne, 7.7.2017)