Politiker sind keine Papas und Mamas, die immer hinhören sollen, sagt der Philosoph – auch, wenn manche Politiker etwas anderes vermitteln möchten.

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STANDARD: Ihr Befund über die westliche Welt fällt ernüchternd aus: Wir nehmen die Freiheit, in der wir leben, als gegeben an. Erwarten, dass alles so bleibt, ohne uns dafür anzustrengen oder gar zu kämpfen. Ist die Freiheit in Gefahr?

Strenger: Sowohl auf der politischen wie auf der gesellschaftlichen Ebene läuft etwas schief. Die letzten drei oder vier Generationen haben sich eine Art Verwöhnungscharakter angeeignet. Diese Menschen mussten nicht für Freiheit kämpfen. Ein Großteil in der westlichen Welt weiß mit seiner Freiheit nicht viel Sinnvolles anzufangen.

STANDARD: Müssen die Bürger wieder für die Freiheit kämpfen?

Strenger: Sie haben die Freiheit wie selbstverständlich in die Wiege gelegt bekommen – und da kommt diese Konsumentenmentalität ins Spiel. Es heißt: Die Gesellschaft ist uns Glück und ein schönes Leben schuldig. Der Staat ist uns Sicherheit schuldig, und die Politiker müssen dafür sorgen, dass X, Y oder Z passiert. Da hat sich eine infantile Einstellung breitgemacht, weil davon ausgegangen wird, dass es eine Obrigkeit gibt, die verantwortlich ist. Als ob wir Kinder und da oben Eltern sind, die es für uns richten werden. Aber die Gesellschaft sind wir. Und wer am Schluss in der Politik etwas zu bestimmen hat, das bestimmen wieder wir.

"Politiker sind keine wohlwollenden Eltern, die immer hinhören müssen", sagt Philosoph Carlo Strenger.
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STANDARD: Viele klagen doch, dass sie nicht gehört werden. Die Politiker hören uns nicht zu! Lügen sich diese Leute in die Tasche?

Strenger: Um gehört zu werden, muss man sich aktiv organisieren. Eine der sehr negativen Entwicklungen der letzten dreißig Jahre ist, dass die Mitgliedschaft in politischen, sozialen Organisationen oder anderen Gruppierungen ständig zurückgeht. Es ist eine Frage: Wie viel Zeit und Energie bin ich bereit zu investieren? Einfach am Stammtisch zu sagen, dass ich etwas ändern möchte, genügt nicht: Na sicher wird man da nicht gehört! Politiker sind ja keine wohlwollenden Eltern, die immer hinhören müssen. Man muss schon im politischen Feld auf die eine oder andere Art aktiv sein.

STANDARD: Über soziale Medien seine Meinung zu artikulieren ...

Strenger: ... reicht nicht. Aber die sozialen Medien werden in solche Fragen ein bisschen zu viel angegriffen. Das wahre Problem ist schon ein gewisses Gefühl der Entmachtung der Bürger in vielen Kontexten – und das hat mehr mit der Globalisierung als mit den sozialen Medien zu tun. Wir sind in der Mitte einer riesigen Umschichtung, die sehr weitreichende soziale, wirtschaftliche und politische Konsequenzen hat. Das schafft ein großes Unsicherheitsgefühl. Insofern befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie Ende des 19. Jahrhunderts, als die industrielle Revolution die alte Ordnung mehr oder weniger zerstört hat. Die neue Ordnung hat lange gebraucht, bis sie sich stabilisierte. Eine solche Turbulenzperiode ist eine Zeit, in der sich die Menschen besonders mobilisieren müssen, um zu verhindern, dass – wie es leider 1920 und 1930 geschehen ist – populistische Parteien diese Unsicherheit benützen und die Welt ins Chaos stürzen.

STANDARD: Sprechen Sie damit US-Präsident Donald Trump an?

Strenger: Nicht nur. Trump ist keineswegs ein Einzelfall. Denken Sie an den Brexit. Auch in Österreich bekommen Sie ja viel von dieser Ware zu sehen, welche die Ängste der Wählerschaft raffiniert ausnützt, um den Zorn der verwirrten Wähler auf irgendetwas zu lenken: Bei Trump sind es die Mexikaner, bei Le Pen die Muslime, in Österreich gibt es eine eigene Version. Schauen Sie sich an, woher die Menschen ihre Informationen oder besser Pseudoinformationen nehmen. Was sie bekommen, ist ein vollkommenes Zerrbild. Aber sie wollen gar keine wirkliche Information, was sie wollen, ist, ihre eigenen Vorurteile bestärkt zu bekommen. Wir sehen, wie populistische Politiker frisch und fröhlich das Wählertum einfach anlügen, mit vollkommen unbasierten, falschen Thesen, aber es dennoch zustande bekommen, gewählt zu werden. Und dass die Wähler einfach nicht mehr zwischen etwas Plausiblem oder Unsinn unterscheiden können oder wollen.

STANDARD: Eine Bildungsfrage?

Strenger: Es gibt sicher eine gewisse Korrelation zwischen der Bildungsstufe eines Menschen und der verantwortlichen Meinungsbildung. Andererseits finden Sie auch Akademiker, die Holocaust-Leugner sind. Ich glaube, es geht ein bisschen weiter. Heute wird nur mehr über Ausbildung, nicht über Bildung nachgedacht. Der öffentliche Diskurs lautet: Ist dies eine Schule, die hilft, später einen guten Job zu bekommen? Ist dieses Studienfach effektiv, um dann in ein lukratives Geschäft einsteigen zu können? Die ganze Idee, die im Wort Bildung steckt, kommt unter die Räder. Das Bildungswesen ist enorm unter Druck geraten, sich ständig nur ökonomisch zu rechtfertigen. Daher ist die Ausbildung, die die Menschen bekommen, nicht notwendigerweise die Bildung, die sie brauchen, um mit ihrer Freiheit etwas Vernünftiges anzufangen.

STANDARD: Ist der Kampf um die Freiheit also eher ein Elitenprojekt?

Strenger: Wenn wir über die westliche Welt sprechen, müssen Sie sehen, dass heute der Durchschnitt von Menschen, die eine Hochschule absolvieren, bei über 40 Prozent liegt. Die Kinder müssen eine gewisse Zahl an Jahren in die Schule gehen. Wir leben also grundsätzlich in einer Welt, in der nicht eine kleine Elite – 1930 waren knapp fünf Prozent der Deutschen in einer Hochschule, und die Schulpflicht war minimal – über Bildung verfügt. Aber das Gefühl der Verantwortung jedes Einzelnen für das gesamte System, das uns all dieses Wohlergehen ermöglicht, wird nicht gefördert.

STANDARD: Der Haken scheint ja zu sein: Man spürt die Freiheit erst, wenn sie weg ist.

Strenger: Da haben Sie leider recht. Freiheit wird erst dann thematisiert, wenn sie bedroht ist. Es ist paradox: Die islamistische Terrorwelle ab 9/11 hat den Westen wenigstens dazu gebracht, die Frage, was Freiheit ist und wie wichtig sie ist, wieder ins Zentrum des Diskurses zu stellen. Vorher wurde sie gar nicht mehr gestellt. Plötzlich tauchte die Frage auf: Was verteidigen wir eigentlich? Aber schauen Sie sich diese ganze Panik an, zum Beispiel die These der Islamisierung Europas. Das ist nur noch ein weiterer Trick der populistischen Rechten. Alle demografischen Voraussagen sprechen davon, dass im Jahr 2035 der Anteil der Muslime in der west- und mitteleuropäischen Bevölkerung, grosso modo also der EU plus Schweiz und Norwegen, bei einem Maximum von zirka acht Prozent liegen wird. Da von einer Islamisierungsgefahr zu sprechen ist lächerlich.

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"Die Freiheit führt das Volk" von Eugène Delacroix: "Die letzten drei oder vier Generationen haben sich eine Art Verwöhnungscharakter angeeignet. Diese Menschen mussten nicht für Freiheit kämpfen", sagt Strenger.
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STANDARD: Aber viele Menschen fürchten genau das – und warnen vor Burka und Burkini.

Strenger: Das zeigt wieder, wie sehr es daran fehlt, dass Menschen lernen, Probleme durchzudenken. Es gibt in ganz Frankreich weniger als 2000 Frauen, die eine Burka tragen. Daraus ein solches Riesenproblem zu machen ist Verhältnisblödsinn. Der Burkini hat nicht das Geringste mit Sicherheits- und Integrationsproblemen zu tun. Und das mit freiheitlicher Ordnung zu verbinden ist ein reiner Schmäh. Wenn es Kulturen gibt, innerhalb von liberalen Gesellschaften, die ihre Kinder früh verheiraten, dann stellt sich die Frage, ob wir das akzeptieren oder ob wir auf das Menschenrecht, dass kein Mensch gezwungen werden darf, eine Ehe einzugehen, pochen und Nein sagen. Das sind dringliche, grundsätzliche Fragen. Burka und Burkini sind viel Lärm um gar nichts.

STANDARD: Tatsache ist: Viele haben offenbar Angst vorm Islam.

Strenger: Man muss die Tatsachen klarmachen. Wie viele Muslime gibt es in Europa tatsächlich? Wie viele sind militant? Und wie groß ist die Gefahr wirklich? Ich bin seit Jahren in der Terrorforschung tätig und befürchte, dass wir in den nächsten Jahren mit dem Phänomen des Terrorismus leben werden müssen. Aber das ist weder neu, noch hängt es nur mit dem Islam zusammen. Bis vor zirka zwölf Jahren war der Ort, an dem es die meisten Selbstmordattentate gab, Sri Lanka, und das waren maoistische Gruppen. Ich darf auch daran erinnern, dass es in Großbritannien eine 30 Jahre dauernde riesige Terrorwelle durch die IRA gegeben hat. Und Großbritannien hat es doch zustande gebracht, seine Demokratie, seine freiheitliche Rechtsordnung dadurch nicht aushöhlen zu lassen. Dabei gab es über 3500 Opfer. Ich bin überhaupt nicht gegen strenge Handhabe. Aber wie weit wir den Terror als Vorwand benutzen, um unsere Freiheit wegzuwerfen, um den Staat immer mehr Autorität zu geben und in totalitäre Strukturen hineinzurutschen, ist immer noch unsere Sache.

STANDARD: Die Staaten reagieren immer mit noch mehr Überwachung, noch strengeren Gesetzen. Und die Bevölkerung scheint das alles mitzutragen.

Strenger: Wir sind sicher in einer Periode, in der das Überwachungsniveau höher sein muss, als es je gewesen ist. Aber es ist vollkommen falsch, das einfach gewissen Gremien zu überlassen. Die Bürgerschaft als solches muss in den Diskussionen involviert sein. Wenn wir nicht begreifen, dass wir selbst der Staat sind, und wenn wir die Verantwortung nach oben schieben, dann werden wir nicht nur infantilisiert, wir verlieren zuerst die Freiheit auf der persönlichen Ebene, und am Schluss ist die Gefahr gegeben, dass wir sie auch auf der politischen Ebene verlieren. (Peter Mayr, 2.7.2017)