Chemienobelpreisträger William Moerner ist besorgt von der Entwicklung, dass wissenschaftliche Fakten oftmals nicht für wichtige Entscheidungen herangezogen werden.

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Für die ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrates Helga Nowotny ist die Kommunikation der Wissenschafter nach außen zentral.

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Chemienobelpreisträger Peter Agre appelliert an die Wissenschafter, mit Politikern ins Gespräch zu treten: "Es ist unsere Verpflichtung mitzuteilen, was wir wissen."

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Es gibt eine Entwicklung, die William Moerner, Professor an der Stanford Universität in San Francisco, zunehmend Sorgen bereitet: "Mich beunruhigt die Situation, dass Entscheidungen getroffen werden, die sich nicht auf Tatsachen stützen", sagte der Chemienobelpreisträger vergangene Woche bei der Lindauer Nobelpreisträgertagung. Ein Beispiel dafür sei der Klimawandel. Es handle sich dabei zwar um ein komplexes Phänomen, es gebe aber Vorhersagen, was in Zukunft passieren wird, die auf Experimenten basieren. "Wir haben Studien, die nachweisen, dass die Menschen für die Zunahme an CO2 und die steigende Temperatur verantwortlich sind", sagte Moerner.

Die Rolle von Wissenschaftern in der postfaktischen Gesellschaft, in der Ideologien und Glaubenssysteme oftmals schwerer in Debatten wiegen als wissenschaftliche Fakten, war eines der Hauptthemen der Tagung, die vergangene Woche zum 67. Mal im bayerischen Lindau am Bodensee stattgefunden hat. Knapp 30 Nobelpreisträger und mehr als 400 Nachwuchswissenschafter tagten heuer schwerpunktmäßig bezüglich des Fachs Chemie, die Veranstaltung wurde auch vom österreichischen Wissenschaftsministerium gefördert.

Viele US-Klimaskeptiker

Die ehemalige Präsidentin des Europäischen Forschungsrats (ERC) Helga Nowotny betonte in einer Diskussion über die postfaktische Gesellschaft, dass es dabei einen entscheidenden Unterschied zwischen den USA und Europa gebe. "Die Klimaskeptiker sind in den USA konzentriert, in Europa gibt es dagegen sehr wenige", sagte die österreichische Wissenschaftsforscherin. Die Ursache dafür sieht sie in der enormen Öl- und Gasindustrie in den USA und den damit verbundenen ökonomischen Interessen.

Diese Entwicklung habe sich auch schon in den vergangenen Jahrzehnten bemerkbar gemacht. "Wir haben nie in einem Zeitalter der Wahrheit gelebt", sagte Nowotny. Bereits in der Renaissance sei mit Argumenten Politik gemacht worden, die wir heute als postfaktisch bezeichnen würden.

Den Grund, warum die heutige Gesellschaft dafür besonders sensibel ist, sieht Nowotny in der Tatsache, "dass noch nie so ein hoher Anteil der Menschheit gebildet war. Dadurch haben sich unser Standard und unsere Erwartungen gehoben."

Kampf um Vertrauen

Was in den Debatten um die postfaktische Gesellschaft manchmal ins Hintertreffen gerät, ist die Tatsache, dass generell Wissenschafter immer noch mehr Glaubwürdigkeit in der Öffentlichkeit genießen als etwa Politiker. In den USA ergab eine Studie des Pew Research Center im Vorjahr, dass 75 Prozent der Amerikaner Wissenschaftern vertrauen, im öffentlichen Interesse zu agieren, dagegen aber weniger als 50 Prozent den gewählten Amtsträger abnehmen, zugunsten des Gemeinwohls zu handeln.

Doch wie lässt sich das Vertrauen der Bevölkerung in die Wissenschaft halten oder weiter verstärken? Nowotny plädierte dafür, dass Wissenschafter in der Öffentlichkeit stärker kommunizieren sollten, wie sie zu ihren Ergebnissen kommen und wie der Prozess genau abläuft, bis sich sagen lässt: "Nun haben wir Gewissheit."

Wissen weitergeben

Auch Moerner betonte die enorme Bedeutung von Wissenschaftskommunikation nach außen. "Egal ob ein Ergebnis richtig oder falsch ist, die Ergebnisse werden publiziert, und jeder kann sie einsehen. Wenn sich herausstellt, dass sie falsch sind, werden sie verworfen – so funktioniert Wissenschaft", sagte Moerner.

Seinen Nobelpreisträgerkollegen und den anwesenden Jungwissenschaftern riet er, dass die Kommunikation von Wissenschaft schon in der eigenen Familie und dem Freundeskreis ansetzen sollte, um zu vermitteln, dass die Wissenschaft Fakten hervorbringt, die nicht von Glaubenssystemen oder Geschmack abhängen. Er zitierte den US-Astrophysiker Neil deGrasse Tyson: "Das Gute an der Wissenschaft ist, dass sie wahr ist, unabhängig davon, ob man an sie glaubt oder nicht."

Chemienobelpreisträger Peter Agre sprach sich dafür aus, dass Wissenschafter mit den politischen Kräften das Gespräch suchen sollten, auch wenn diese die wissenschaftlichen Fakten nicht hören wollen: "Als Wissenschafter ist es unsere Verpflichtung mitzuteilen, was wir wissen." (Tanja Traxler aus Lindau, 5.7.2017)