Stoffel Vandoornes McLaren hängt in Monaco am Kran.

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Amesberger: "Wir alle werden mal wütend. Die Frage ist, wie wir mit der Wut umgehen."

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STANDARD: Sebastian Vettel gegen Lewis Hamilton, das ist Brutalität. Was denkt sich der Sportpsychologe, wenn ein vierfacher Formel-1-Weltmeister, und sei es bei 20 km/h, sein Auto absichtlich in das Auto eines dreifachen Weltmeisters lenkt?

Amesberger: Noch wichtiger ist für mich die Aussagenkombination "Wir sind erwachsen, wir sind Männer, im Auto kochen halt die Emotionen hoch". Das ist schon ein sehr charakteristisches Statement, das die Relation von Rationalität und emotionalem Kontrollverlust verdeutlicht.

STANDARD: Der Ausraster selbst ist für Sie wie zu erklären?

Amesberger: Die meisten Menschen sind in hohem Ausmaß emotional gesteuert. Das wird kognitiv überlagert, deshalb sind wir alle im Prinzip ja relativ nett. Aber wenn etwas wirklich unter die Haut geht, reagieren wir oft im emotionalen Muster. Dann entstehen solche Reaktionen wie bei Vettel, da kann man von Affektlogik reden.

STANDARD: Müsste nicht gerade ein Spitzensportler in der Lage sein, seine Emotionen besser zu kontrollieren?

Amesberger: Viele Spitzensportler zeichnet nicht zuletzt aus, dass sie schnell reagieren. Und eine Reaktion wie jene von Vettel ist ja kein Einzelfall, das passiert immer wieder. Wie oft wundern wir uns über Fußballer, die den Schiedsrichter kritisieren, obwohl sie wissen müssten und ja auch wissen, dass sie dafür verwarnt werden? Denken Sie nur an den berühmten Kopfstoß von Zidane. Das hätte man für unmöglich gehalten, aber da wurde auch durch einen Gegenspieler exakt der emotional hochempfindliche Punkt getroffen, der zu dieser impulsiven Reaktion geführt hat.

STANDARD: Man kann aber davon ausgehen, dass Vettel sein Auto bei 200 km/h nicht als Rammbock verwenden würde.

Amesberger: Das ist zu hoffen. Aber Garantie gibt es keine. Halten Sie sich nur vor Augen, wie viele Menschen auf den Autobahnen aberwitzige Aktionen setzen.

STANDARD: Wo rührt die Aggression im Straßenverkehr her?

Amesberger: Im Auto wird viel ausgeblendet. Außerdem sind die Eigen- und die Fremdwahrnehmung ja völlig unterschiedlich. Die meisten Autofahrer sind überzeugt davon, die Lage völlig im Griff zu haben. Auf der Skipiste ist das ähnlich, das haben wir untersucht. Die meisten Skifahrer hatten eine absolute Kontrollüberzeugung, die Bewertung des eingegangenen Risikos von außen war eine ganz andere.

STANDARD: Wieso fahren Autofahrer viel zu knapp auf, obwohl ihnen das gar nichts bringt? Wieso rasen Radfahrer mit 140 Puls über den Wiener Ring-Radweg, obwohl sie, wenn überhaupt, damit drei Minuten gewinnen?

Amesberger: Aggression ist auf allen Ebenen verankert: neurobiologisch, lerngeschichtlich und sozial. Viele schauen nur auf ihren eigenen Vorteil und fragen sich nicht, wie es demjenigen geht, der ihnen gerade entgegenkommt.

STANDARD: Wird das Auto als Rüstung empfunden?

Amesberger: Die allermeisten Fehler, die man als Autofahrer macht, haben keinen Unfall zur Folge. Und wenn ein Autofahrer durch eine Lacke fährt, wird er selbst nicht nass, sondern nur der Fußgänger oder der Radfahrer, der in der Nähe ist. Und in wichtigen Situationen oder Situationen, die als wichtig empfunden werden, sinkt der moralische Anspruch. Wer es eilig hat, fährt näher auf.

STANDARD: Woran fehlt es da?

Amesberger: Neben der rationalen Einsicht in erster Linie an Empathie, also an der Fähigkeit, sich in andere einzufühlen. Hochaggressive Menschen haben zu wenig Empathie. Sie schlagen beispielsweise zu und empfinden Lust. Müsste, aus welchem Grund auch immer, ein empathischer Mensch zuschlagen, so würde ihm das auch selbst wehtun.

STANDARD: Aber ist Aggression im Spitzensport nicht sogar eine Notwendigkeit?

Amesberger: Das würde ich nicht so sehen. Aggression ist auf Schädigung ausgerichtetes Verhalten. Aber selbst Kampfsportarten haben genaue Regeln, an die man sich halten muss. Was Spitzensportler brauchen, ist ein hoher Energielevel. Aber Aggression ist keine genuine Voraussetzung für sportliche Leistung.

STANDARD: Bei Skisportlern ist oft von einer aggressiven Fahrweise die Rede. Gewinnt da nicht meistens der Aggressivere?

Amesberger: Da steckt aber nie die Intention dahinter, einen anderen zu schädigen. Die einen wollen sich verbessern, da reden wir von "task orientation". Die anderen wollen gewinnen, das nennt sich "ego orientation". Bei wirklich guten Sportlern ist beides hoch ausgeprägt. Marcel Hirscher etwa will natürlich unbedingt gewinnen. Aber wenn er nicht gewinnt, schaut er sofort, wo er sich verbessern kann.

STANDARD: Wenn man Vettel und Hamilton betrachtet, sieht man ja fast zwei Buben vor sich, die in der Sandkiste ums Schauferl streiten. Tatsächlich spielen Aggressionen auch in der Erziehung eine große Rolle. Ganze Bücher handeln davon, wie Eltern mit ihren eigenen und den Aggressionen ihrer Kinder umgehen sollen.

Amesberger: Auch da geht es ständig um das Ausloten der Grenzen. Wir alle werden mal wütend. Die Frage ist, wie wir mit der Wut umgehen. Schlagen wir auf einen Sandsack, oder schlagen wir sonst wohin? Kinder müssen in der Auseinandersetzung mit Erwachsenen einen passenden Umgang mit ihren Emotionen finden. Wirklich erschreckend finde ich, wenn ich Eltern sehe, die neben ihren Kindern sitzen, und alle starren aufs Handy. Unser Beziehungswissen bauen wir über Interaktion auf. Und Kinder und Eltern, die nur auf ihr Handy starren, verpassen viel. Die lernen nicht, dass etwas nicht stimmt, wenn ihr Gegenüber die Augenbrauen hochzieht.

STANDARD: Einem Vettel wird es relativ egal sein, wenn ein Hamilton die Augenbraue hochzieht. Auch die Zehn-Sekunden-Strafe hat ihm nicht wirklich wehgetan, er kommt am Wochenende als WM-Leader nach Spielberg. Aber gibt er nicht ein übles Vorbild ab?

Amesberger: Das hat ja auch Hamilton angesprochen. Dass unzählige Menschen zusehen, bei denen das, was Vettel getan hat, als ein richtiges und als ein sportliches Verhalten angekommen sein kann. Und natürlich werden Idole viel stärker imitiert, wenn sie aggressives Verhalten an den Tag legen. Das merkt man sich.

STANDARD: Ist Aggression, weil erklärbar, auch entschuldbar?

Amesberger: Nein. Es geht immer um das Streben nach Verbesserung in der Selbstregulation. Es geht darum, angemessene Reaktionen zu setzen und die richtige Entscheidung zu treffen, wenn es mehrere Möglichkeiten gibt. Das kann durchaus anstrengend sein.

STANDARD: Selbsterkenntnis ist ebenfalls mühsam. Vettel hat sich nach seiner Baku-Aktion erst spät und auf externen Druck hin entschuldigt. Wie, glauben Sie, könnte es quasi intern aussehen?

Amesberger: Er hätte ja auch härter bestraft werden können. Spitzensportler wie Vettel haben meistens eine Beratungsstruktur. Ich kenne ihn nicht und will ihm nichts empfehlen. Aber kritische Handlungen sollten prinzipiell Anlass zur Auseinandersetzung damit sein. Passiert mir beim Fahren ein Fehler, denke ich darüber nach, wie ich ihn beim nächsten Mal vermeiden könnte. (Fritz Neumann, 5.7.2017)