Der Schulalltag – eine ständige Gratwanderung.

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Ich hätte nie gedacht, dass die Tage nach der Austeilung der Zettel mit Bundesadler und Rundsiegel die schlimmsten des ganzen Jahres sind. Es ist eine Achterbahnfahrt zwischen Freude und Depression. Das gesamte Schuljahr donnert wie ein Zeitraffer vor deinen Augen, die Nächte sind kürzer als sonst, und eigentlich bist du gedanklich schon wieder im nächsten Schuljahr. In Wirklichkeit bist du "krank", weil dir die ganzen Ereignisse, die Schicksale der Kinder und Jugendlichen, die bildungspolitische Zähigkeit, der ständige Rassismus und die Diskriminierung unterschiedlichster Menschen, denen die Schülerinnen und Schüler ausgesetzt sind, einfach nur auf den Sack gehen. Eigentlich willst du schon wieder raus aus dem System.

Aber Moment: Ich wollte ja alles zum Besseren gestalten. Wie soll das gehen? Funktioniert das überhaupt, oder sollten wir schon einen fulminanten Abgang planen? Im Folgenden ein paar Zeilen, die einen Einblick in den Lehreralltag gewähren und auch Mut zusprechen, dass es sich lohnt zu kämpfen und radikale linke Bildungsideen mehr denn je wichtig sind.

1 Schulalltag ...

... ist eine ständige Gratwanderung zwischen Freude und Hass. Die Lobhudeleien und die extreme Schwarzmalerei von Kolleginnen und Kollegen nerven. Nicht alles ist super, nicht alles ist fein, nicht jeder Mensch ist sympathisch und steht dir zu Gesicht, und nicht immer kannst du wie eine Maschine dein pädagogisches Programm abspielen.

Bist du fit genug, dich zu hundert Prozent auf die Jugendlichen einzulassen, um ernsthaft inhaltlich und auch persönlich Auseinandersetzungen zu führen, oder wäre es Zeit für eine Auszeit? Findest du immer das richtige Maß an Distanz, Zuwendung und Professionalität? Wie sicher bist du in der Situation? Machst du gerade unabsichtlich aus einer Mücke einen Elefanten, oder siehst du umgekehrt nicht die Tragweite eines realen Problems unter den Schülerinnen und Schülern?

Der Spiegel, den dir die Schülerinnen und Schüler ständig vorhalten, der punktgenaue Druck auf deine persönlichen Geschichten, Trigger und Schwächen sind eine ständige Herausforderung und saugen dich auf. Okay, glücklicherweise arbeite ich in einem großartigen und sehr offenen Team mit Fingerspitzengefühl, aber die Therapie, quasi den Schutzmantel der täglichen Arbeit, musst du dir selber checken. Und da du schulmedizinisch nicht krank bist und Prävention in unserer Gesellschaft Privatsache ist, blechst du privat.

Wo Menschen auf Menschen treffen, gibt es Spannungen, Erwartungshaltungen und viele, aber auch sehr viele schöne Momente. Die Rahmenbedingungen sind bei weitem nicht ideal. Der neoliberale Druck auch im Bildungsbereich steigt ins Unermessliche. Die Sozialausgaben dürfen nicht steigen, Stichwort Kostenneutralität. Dabei wären Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, Pädagoginnen und Pädagogen eine Investition, um gesellschaftlichen Wogen vorzubeugen.

1 Abbild der Gesellschaft

An meiner Schule, seit fast 20 Jahren ein Schulversuch, gibt es ein sehr schönes Abbild der Gesellschaft. Es kommen Schülerinnen und Schüler aus privilegiertem Hause, aus katastrophalen Familienverhältnissen, aus unaussprechbaren Schicksalen und Menschen mit Beeinträchtigungen, ohne Sprachlaute und/oder zutiefst traumatisiert. Es gibt alternative Bobos, Schülerinnen und Schüler, die ihre Eltern pflegen, laufende Gefährdungsmeldungen beim Jugendamt sowie rechte und linke Clans.

Alle treffen aufeinander, alle beschäftigen sich miteinander, und es entsteht eine Dynamik, eine Energie, die unbeschreiblich ist. Sehr gläubige Menschen treffen auf Atheisten, heteronormative treffen auf LGBT-Menschen, tauschen sich aus und verstehen einander. Verstehen, warum jemand anderer anders denkt und lebt, und sie akzeptieren sich und, noch wichtiger, sie beschäftigen sich miteinander.

Sie sind etwa solidarisch, wenn ein älterer österreichischer Pensionist ein Mädchen mit Kopftuch als IS-Fundamentalistin beschimpft. Oder wenn ein Junge mit dunkler Hautfarbe auf der Parkbank von einer älteren Frau als "Neger" angebrüllt wird, weil er "lauter" mit seinen Freunden diskutiert oder spielt. Die Jugendlichen, so wie ich es mitbekommen habe, fressen diese Grausamkeiten entweder in sich hinein oder gehen aktiv damit heraus. Das ist ein Teil Österreichs, das ist der Teil, den Sebastian Kurz, Wolfgang Sobotka, Hans Peter Doskozil und die extreme Rechte befeuern.

1 politisches Armutszeugnis

Die Politik trägt Verantwortung. Etwa wenn Politikerinnen und Politiker ganz bewusst aus einer Mücke einen Elefanten machen, ein Szenario aufzeichnen, um Menschen zu diskriminieren und der Mehrheitsgesellschaft zwar nicht sagen, aber vermitteln: Grenzt sie (die anderen) aus! Die tägliche Arbeit von Pädagoginnen und Pädagogen ist einzuschätzen, ob eine Situation eine Mücke oder ein Elefant ist, um bei diesem Sprichwort zu bleiben. Und klar, es werden ständig Worst-Case-Szenarien besprochen und hin und wieder in der Supervision durchgespielt.

Aber all das heißt nicht, dass ich mich vor die Schülerinnen und Schüler oder, noch besser, vor das Schulforum stelle und das größte Drama der Schulgeschichte darstelle, schön verpackt und mit einem Schuldigen. Die Netflix-Serie "Tote Mädchen lügen nicht" handelt von einem Suizid einer jungen Frau, die von ihrem Umfeld, den Schulpsychologen et cetera nicht ernst genommen wurde. Das Ministerium gibt jetzt Anweisungen, wie Pädagoginnen und Pädagogen mit dieser Serie umzugehen haben. #BitteWAS? Natürlich sind Informationen und Handlungsanweisungen okay, aber diese kommen Monate zu spät.

Vor einigen Wochen bin ich unabsichtlich von Jugendlichen auf die #bluewhalechallenge aufmerksam gemacht worden. Dieser Hashtag bringt dich zum Suizid in 50 Tagen mit Anweisungen per Whatsapp-Nachrichten und regelmäßigen Postings. Eine Urban Legend, ein Hoax, wie bei "Mimikama" nachzulesen ist, aber real für viele Jugendliche. Österreichs Politik will wegschauen, ignorieren, etwas vorschreiben. Wir haben darüber gesprochen, erörtert, warum sie nach dem Hashtag-Posting eine Whatsapp-Nachricht bekommen und wer dahinterstecken könnte. Das ist Medienbildung in einer offenen Gesprächsrunde. Schnell haben einzelne Jugendliche die Tragweite erkannt, sind in ihrer Peergroup Multiplikatoren geworden und verdienen vollstes Vertrauen. Ein Wegschauen ist genauso schlimm wie das Aufzeigen eines Schuldigen ohne offenen Umgang mit der Problematik in der Schule.

1 Autonomiepaket

Juhu! Endlich tut sich etwas in der Bildungs- und Schulpolitik. "Fast geil", hip und modern wurden die Eckpunkte 2015 von der damaligen SPÖ-Bildungsministerin Gabriele Heinisch-Hosek und von Harald Mahrer, damals ÖVP-Staatssekretär, angepriesen. Eine Bewegung (!) in der Schulpolitik sozusagen. Ich persönlich finde es für Bildungsministerin Sonja Hammerschmid und den grünen Bildungssprecher Harald Walser gut, noch vor der Wahl ein "Erfolgsprojekt" durchgezogen zu haben. Es ist ein Erfolgsprojekt, weil sich nach Jahrzehnten zumindest etwas tut. Ähnlich war es damals in der ÖH mit der Novelle des Hochschülerschaftsgesetzes auch. Auch da war nicht alles supertoll, aber wesentliche Punkte wurden verbessert, und mit ein bisschen Kreativität ist auch bei den Minuspunkten einiges möglich. Klar ist, Gesetzesverhandlungen sind schwer und oft unbefriedigend. Ein gewisser Pragmatismus ist notwendig, um nicht komplett das Handtuch zu werfen.

Aber zurück zum Autonomiepaket. Schon das Wort alleine ist ein Hohn. Wenn ein staatliches Schulsystem autonom ist, ist es nicht staatlich, sondern maximal privat, ohne Regeln und Kontrolle. Das wollen wir alle nicht. Somit ist die Begrifflichkeit schon ein bisschen "dings". Autonomer sind maximal die Entscheidungskompetenzen der Direktorin, des Direktors geworden. Aber auch hier gab es vorab Wege, um zum Beispiel Einfluss auf die Personalauswahl zu nehmen. Aber das war halt eine zusätzliche Hack'n. Auch das machten einige direkt mit der Schulbehörde aus.

Es ist auch absurd zu glauben, dass Teamteaching mit allen geht. Stichwort Personal: Hier wird es noch sehr spannend, weil die Verteilung der Ressourcen noch nicht vollständig geregelt ist. Ein Chancenindex soll es werden, aber der kommt mit einer Verordnung des Ministeriums. Bei einer schwarz-blauen Regierung wird das eine Katastrophe. Warum packt man das in eine Verordnung? Warum schreibt man die Basisfinanzierung nicht ins Gesetz? Hier sollen Indikatoren wie der sozioökonomische Hintergrund, erhöhter Förderbedarf, Sprache et cetera einfließen. Wie das berechnet wird und welches Personal für welche Schlagworte sinnvoll ist, bleibt abzuwarten.

Hinzu kommt, dass die Schule noch immer ein geschlossenes System ist und Menschen ohne Lehramt keinen gleichberechtigten Platz in der Schule finden. Bei Schülerinnen und Schülern mit schwierigen sozioökonomischen Hintergründen sind Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter, Psychologinnen und Psychologen aber teilweise bessere Expertinnen und Experten als Pädagoginnen und Pädagogen. Das wäre eine echte Revolution, ein solches pädagogisches Team an der Schule zu haben. Expertinnen und Experten, die sich um die Vielfalt der Menschen kümmern, sie unterstützen und begleiten. Auch dort, wo, wie oben beschrieben, Diskriminierung passiert. Aber das ist Wunschdenken. Im Moment sind ausgebildete Sozialarbeiterinnen, Sozialarbeiter, Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen, Lehramtsabsolventinnen und -absolventen aus anderen (EU-)Ländern immer noch "Beiwagerln" beziehungsweise in mehrjährige Sonderverträge mit geringem Gehalt und de facto null Gehaltssprüngen gefesselt.

1 weiterer Versuch vong Optimismus her

Es bewegt sich nichts. Bewegung. Tja, eh schön. Trotzdem heißt es kämpfen. Immer und immer wieder. Es verlangt radikale Ansagen, um den Horizont zu öffnen. Es braucht Menschen, die weiter daran glauben und zumindest im eigenen Einflussbereich etwas bewegen, ja, bewegen. LOL. Da musste ich jetzt selber lachen. Im März feiern die Mehrstufenklassen, ein schul- und gesellschaftspolitisches Erfolgsprojekt, ihr 20-jähriges Bestehen.

Bildung muss immer wieder neu gedacht werden, von der Kleinkindbetreuung bis hin zur Hochschulbildung oder dem lebenslangen Lernen. Es braucht Menschen, die einer Bewegung den Stillstand aufzeigen. Es braucht Menschen, die differenzierte und auf das Kind bezogene Chancen und Möglichkeiten aufzeigen und nicht "unter"richten, sondern "auf"richten. (Bernhard Lahner, 12.7.2017)