Es war – wieder – eine Übung in Demut. So wunderschön der "Playground called Outdoors" auch ist, so wichtig ist da ein kleiner, semantischer Unterschied: "Wir spielen in der Natur, nicht mit ihr", erklärt Michael Lemmel Sonntagabend, als der Regen so laut auf das Dach des Eventzelts am Kite-Surf-Strand von Silvaplana trommelt, dass es schwer ist, ihn zu verstehen. "Und es ist gut, in solchen Momenten zu sehen, wie klein wir tatsächlich sind: Wir können alles tun – wenn wir es mit Respekt und Bedacht tun. Und wissen, dass nicht wir die Regeln schreiben."

Foto: Ottilo Sophie

Lemmel ist kein Prediger. Er ist Veranstalter. Gemeinsam mit Mats Skotts steht er für die Marke "Ötillö". Ötillö veranstaltet die "Swimrun World Series" – und ist damit in dieser Szene das, was "Ironman" im Triathlon ist: ein Synonym für eine ganze Sportart – auch wenn es andere Anbieter und Veranstalter in der Mehrfachkombi aus Openwater-Schwimmen und (zumeist Trail-)Laufen gibt.

Sonntagabend waren Skott und Lemmel in der Schweiz. Im Engadin, bei St. Moritz. Zwischen Malojapass und Silvaplanasee haben sie eines ihrer Rennen abgehalten – und irgendwann die Notbremse gezogen: Auf dem Berg kann das Wetter schnell umschlagen. Und mitten in einem schweren Gewitter gibt es ein paar Orte, an denen man nie sein will – schwimmend mitten in einem See zum Beispiel. "Alle raus! Sofort!", lautet daher die Order an jene Ötillö-Teilnehmer, die da gerade auf der letzten oder vorletzten Schwimmetappe sind, als binnen drei Minuten ein schweres Gewitter aufzieht und genau über ihnen losbricht. Statt schwimmen gilt dann eben "länger laufen".

Foto: Ottilo/ Jakob Edholm

Ob das wirklich eine Erleichterung war, ist danach umstritten: 40 Kilometer Laufen, sechs Kilometer Schwimmen hatte der Plan gelautet. Aber aufgrund des Unwetters haben lediglich die ersten drei oder vier (im Bild: die Sieger Jonas und Lars Ekman aus Schweden) der 142 Finisher-Teams (gestartet waren 155) diese Verhältniszahl auch auf den Trackern: Bei den anderen sieht die Bilanz eben verschoben aus. Doch auch wenn die meisten Teilnehmerinnen und Teilnehmer ihre Beine gern ein bisserl länger im Wasser geschont hätten, war allen klar: "Raus aus dem Wasser" war richtig.

Foto: Thomas Rottenberg

Wer oder was "Swimrun" im Allgemeinen und der Ötillö im Besonderen sind, habe ich vergangene Woche hier beschrieben. Auch, dass diese Kombination längst weit mehr als ein reines Freakprogramm für eine Handvoll Durchgeknallter ist: Rund um Österreich boomt der Sport. Hersteller stellen Hardware, Vereine und Shops schießen aus dem Boden. Die beiden deutschen Vorzeige-Swimrunner Wolfgang Grohe und Andre Hook (hier im Bild beim Event im Engadin) geben einen (ausgebuchten) Workshop nach dem anderen – und die Zahl der Events explodiert: Gab es im Vorjahr weltweit 250 Rennen und war der Großteil davon in Schweden, hält man heuer bereits bei mehr als 450 – und über die Hälfte der Bewerbe findet anderswo als in Skandinavien statt.

Foto: Thomas Rottenberg

Österreich aber ist anders. So wirklich weiß niemand, wieso. Schon gar nicht jene paar "Ösis", die bei Wettkämpfen sind: Auf den ersten Blick – also den auf die Starterlisten – sind das gar nicht so wenige. Auf den zweiten handelt es sich aber meist um Expats wie etwa Julia (im Bild): Die gebürtige Wienerin lebt seit Jahren in der Schweiz, arbeitet im Sportmarketing und bestätigt, was jedem anderen, der je im Engadin, im Allgäu, in Kroatien, im Umland von Berlin, auf der Insel Scilly oder eben in Schweden im Neoprenanzug durch hügelige Waldgebiete gelaufen und in Bergseen geschwommen ist, sofort auffällt: Österreich wäre für diesen Spaß prädestiniert. Sowohl für "Einfach so" als auch für Bewerbe: Die Umweltschutz-Beschränkung auf relativ wenige Starter (im Engadin dürfen es nicht mehr als 180 Teams sein) und die rigiden Auflagen der Macher ("if you throw away anything, you will be disqualified immediately: this is not some city-marathon, but nature. Respect it – or leave.") bei gleichzeitig extremer Publikumswirksamkeit sprächen dafür.

Foto: Thomas Rottenberg

Freilich braucht es dafür Bewerbe, die für Normalos bewältigbar sind. Der Hauptbewerb und Namensgeber der Ötillö-Serie geht nämlich "Ö till Ö" – also "von Insel zu Insel": 75 Kilometer im Schärengürtel von Stockholm mit 56 Wechseln über 26 Inseln, zehn Kilometer im Wasser, 65 an Land. Eine Ansage, die von CNN als "härtester Eintagesausdauerevent der Welt" etikettiert wurde. Aber auch die 46 Kilometer im Engadin – mit 1.600 Höhenmetern – sind ein dickes Brett.

Darüber, ob das, was die Ötillö-Erfinder als "Sprint" und Einsteigerbewerb anbieten, tatsächlich jedermanntauglich ist, kann man diskutieren: "Normalo"-Läufer laufen selten mehr als sieben Kilometer. Der Traum ist meist, einmal im Leben einen (Asphalt-)Halbmarathon zu schaffen. Die "Schwimmkompetenz" des durchschnittlichen österreichischen Schulabgängers liegt – angeblich – bei nicht einmal 200 Metern. Ob da 14 Kilometer Laufen im hügeligen Gelände und zwei Kilometer Freiwasser wirklich eine massentaugliche "Einstiegsdroge" sind?

Foto: Ottilo/ Jakob Edholm

Obwohl das Durchschnittstypen sehr wohl schaffen können. Sage ich nicht nur, sondern weiß ich jetzt. Denn gemeinsam mit der Ulmer Lauf-Bloggerin Josephine "Sunny Storm" Kelz habe ich mich drübergetraut: Es war für uns beide ein "First", aber Sunny hat davor immerhin einen Workshop besucht. Und auch wenn ich in Wien einmal zum Gaudium des Publikums ein bisserl Gummianzuglaufen und Mit-Schuhen-Schwimmen gespielt habe, habe ich im Engadin dann kaum einen Anfängerfehler ausgelassen.

Foto: Thomas Rottenberg

Nervös waren wir – obwohl wettkampferprobt – beide. Supernervös. Bei 25 Grad im Neo in der Sonne auf den Start zu warten hilft dann auch nicht wirklich dabei, cool zu bleiben. Das erledigt dann das Wasser nach den ersten 500 Metern Lauf. Mit Vollgas im Pulk ins zwölf Grad frische Wasser, und ich vergesse im Trubel prompt, die Badehaube über die Ohren zu klappen: Der Kaltwasserstich im Ohr geht bis ins Herz – und nach 100 Metern merke ich, dass mein Puls auf 170 ist und weiter steigt. Panik – und das im Wasser. Vollkommen grundlos. Das weiß ich. Und sage es mir auch. Aber Pumpe und Kopf reden grad nicht wirklich miteinander … Sunnys Hand geht an das kleine Päckchen an ihrem Gürtel: Sie ist knapp davor, ihre "Res-Tube" (eine Art Notfall-Instant-Luftmatratze) zu ziehen. Ich kann gerade noch abwinken.

Foto: Ottilo/ Jakob Edholm

Beim Laufen komme ich dann zurück in die Echtwelt. Meine Partnerin ist nett – und verzichtet auf den zwei Kilometern auf die von ihr angesagte 4’20"er-Pace. Wir lernen beide: Laufen im Neo bei diesen Temperaturen ist nicht ohne. Wir dampfen trotz offener Zipps und sind froh, als wir uns wieder abkühlen können. Beim zweiten Schwimmpart (830 Meter) ist Sunny vorn. Komfortables Tempo, aber dennoch überholen wir öfter, als wir überholt werden. In Sunnys Schwimmschatten atme ich den letzten Rest der Panik der ersten Schwimmerei weg: Ich beginne, das Ding zu genießen.

Foto: Ottilo/ Irina Kurmanaeva

Beim nächsten Laufpart geht es am Singletrail in den Wald. 175 Höhenmeter. Ich pace. Rund um uns wird gekeucht, gekämpft, geschnauft und geflucht, aber alle lachen. Und gehören zusammen: Du willst vorbei? – Gar kein Problem. Ich gehe einfach auf die Seite und wünsche dir viel Spaß.

Foto: Thomas Rottenberg

Seltsamsein verbindet: Gemeinsam mit den anderen rufen wir leicht fassungslos dreinschauenden Wanderern fröhlich "Grüezi wohl" zu. Oder "Allegra". Oder "Bon jour". Oder einfach "Hi": Hier rennen Menschen aus 27 Nationen. Mit Badehauben und Schwimmbrillen sehen im Bergwald aber alle gleich seltsam aus.

Foto: Thomas Rottenberg

Nächster Schwimmteil. Jetzt bin wieder ich vorn. Knapp 850 Meter. Gutes Starttempo, guter Rhythmus. Ich spüre, dass ich Sunny leicht mitziehe. Passt also. Aber nach 60 Metern laufen meine Brillen voll. Beide Gläser gleichzeitig: Ich sehe nicht einmal mehr meine Hand vorn, geschweige denn die orange Beachflag, die wir anvisieren. Keine Chance, das noch hinzukriegen: Ich habe die Sonnencreme zu nahe an die Augen geschmiert – da gibt jede Dichtung w. o.

Sunny muss also nach vorn. Drum hängt die Sicherheitsleine jetzt falsch, und statt umzuhängen, wollen wir aufholen. Schwerer Fehler: Meine Leine ist im Kreuz eingehakt und läuft jetzt über Rücken, Nacken, Kopf und Schulter nach vorn. Wenn Sunny beim Überholen eine kleine Kurve schwimmt, wickelt sich die Leine um meinen Arm. Oder meinen Hals: Ich kann nichts dagegen tun, denn ich sehe ja nicht, wohin sie schwimmt …

Foto: Ottilo/ Irina Kurmanaeva

Der nächste Lauf ist heiß und super. Zwei Kilometer, pralle Sonne – in Gummi. Beim letzten Schwimmen geht Sunny gleich nach vorn, ich stopfe die Brille in den Neo und finde sofort in ihren Rhythmus: So geht das! Dann joggen wir das Ding gemütlich heim: zwei Stunden 20 Minuten.

Foto: Thomas Rottenberg

Die Sieger waren 40 Minuten schneller. Von 55 Teams sind wir 18. Von 24 Mixteams sechste. Wir sind stolz: Für zwei absolute Newbies ist das nicht schlecht. Sunny lacht mich an: "Am 7. Oktober ist der Allgäu-Swimrun. 23 Kilometer Laufen, drei Schwimmen. Ich habe noch keinen Partner …" Beim Race-Briefing hat Michael Lemmel einen schönen Satz gesagt: "You go into this as teams. But you cross the finish line as brothers and sisters." Pathetisch, aber wahr.

Foto: Ottilo/ Sophie

Freilich: Das echte Rennen ist am Sonntag. 155 Teams. Das Wetter: durchwachsen. Deutlich kühler. Start in der Früh – am Malojastaudamm. Ein Team spricht mich an: Laetitia Pibis und Markus Kirschner, das Team "irgendwie & sowieso". Die beiden sind (Elite-)Trail- und -Ultraläufer aus Oberösterreich. Für Laetitia ("Ich bin gebürtige Französin, bei uns kennt man Swimrun schon lange") ist es der vierte Start im Engadin. In Stockholm war sie schon zweimal dabei. Für Markus ist es die Premiere.

Und was für eine: vom Start weg drei Kilometer steil bergauf zum ersten See (300 m, 10 Grad Wassertemperatur). Gleich noch 800 Höhenmeter rauf und wieder runter auf acht Kilometer Singletrail zum Malojasee (800 Meter, 12 Grad) … und so weiter.

Foto: Thomas Rottenberg

Zuschauen ist da schon heftig. Aber mit dem "Sprint" in Armen und Beinen und Kopf ist es noch intensiver. Denn auch wenn "meine" Strecken harmloser waren als die der Teilnehmerinnen und Teilnehmer am Volldistanzbewerb, weiß ich, was Neopren-Menschen meinen, wenn sie vom Kälteschock im ersten See reden. Und wie es ist, wenn man beim Laufen am liebsten Schweizer-Käse-Löcher in den Wetsuit schneiden will.

Foto: Ottilo/ Jakob Edholm

Ich weiß, wie es ist zu spüren, dass der Partner oder die Partnerin auf Anschlag unterwegs ist und nur noch läuft, weil man zusammengehört und füreinander verantwortlich ist. Umgekehrt aber auch: Wie es ist zu spüren, dass man dem anderen Kraft gibt: "You cross the finishline as brothers and sisters …" Und es ist großartig zu erleben, dass in diesem Rennen die Prioritäten stimmen, weil keiner weiterläuft, wo einer böse stürzt. Oder das Team am achten Platz auf halber Strecke auf ein Bier geht – und später an einer Labungsstelle den Volunteers ein Ständchen singt. Das kostet Zeit. Na und?

Foto: Ottilo/ Jakob Edholm

Zeit und Platzierung sind morgen egal. Dass man mit dem eigenen Kind am Arm ins Ziel gekommen ist, nicht.

Und ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn man Angst bekommt. Weil während des Zieleinlaufes der ersten Teams das Unwetter plötzlich da ist. Und man, sicher und im Trockenen, im Starkregen mächtige Fächerblitze über und in den See zucken sieht. Und in den Augen aller diese große, böse, ohnmächtige Scheißangst aufflackert: Da draußen sind Menschen im Wasser. "You cross the finishline as brothers and sisters …"

Foto: Ottilo Sophie

Und zuletzt das Lachen, wenn man die Gesichter derer sieht, die – nachdem das Gewitter so rasch verschwunden ist, wie es kam – über die Ziellinie laufen. Wanken. Stolpern. Sich fallen lassen. Und einfach liegen bleiben.

Man weiß aus 1.000 Rennen, aber eben auch von hier, was da gerade in Köpfen und Herzen passiert. Wenn jede Faser des Körpers "Nie wieder!" und "Endlich vorbei!" schreit. Und sich knapp hinter dem Wunschhorizont schon jener Gedanke in Position bringt, der gleich mit dem Stolz auf und mit der Freude über das Geschaffte aufpoppen wird – und den man nicht mehr wegbekommt. Nicht wegbekommen will. Die Frage, wann, wie und wo man sich so etwas wohl das nächste Mal zumuten wird. Oder gönnen.

Auch wenn einen alle anderen für verrückt halten. (Thomas Rottenberg, 12.7.2017)

Mehr Bilder vom Event gibt es auf Thomas Rottenbergs Facebook-Account.

Hinweis im Sinne der redaktionellen Leitlinien: Die Reise und die Teilnahme am Rennen waren eine Einladung des Veranstalters. Die Ausrüstung wurde von Head, Traildogrunning und Inov8 zur Verfügung gestellt.


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Foto: Ottilo/ Sophie