Wien/Palma/Como – Die Begegnung hätte wohl fast jedem einen gewaltigen Schreck eingejagt. Vor etwa sechs Jahren war weit draußen vor der Südküste Mallorcas ein Boot mit Speerfischern unterwegs. Sie suchten nach Beute wie Thunfischen oder Bonitos. Unter Wasser jedoch traf einer der Männer auf etwas viel Größeres. Plötzlich näherte sich ihm eine mehrere Meter lange Kreatur. Der erfahrene Taucher erkannte das Tier sofort: Da vor ihm schwamm tatsächlich ein Weißer Hai. Die Situation war nicht ganz ungefährlich, aber der Raubfisch zeigte kein weiteres Interesse. Er drehte ab und verschwand wieder in den blauen Weiten des Mittelmeers.

Der Speerfischer berichtete dem Meeresbiologen Gabriel Morey von der Organisation Asociación Ondine über den Vorfall. Morey ist Experte für die mediterrane Fischfauna und hat auch die dort vorkommenden Haiarten seit langem im Blick. Weiße Haie tauchen immer wieder vor den Balearen auf, erzählt er. Meistens blieben sie auf hoher See, ihrem Hauptlebensraum.

Bild nicht mehr verfügbar.

Verborgen im unendlichen Blau des Meeres: Der Weiße Hai tritt immer wieder auch an europäischen Küsten auf. Das Risiko für Badegäste ist aber extrem gering.
Foto: Picturedesk / Science Photo Library / Davic Fleetham, Visuals Unlimited

Früher habe man sie allerdings auch ab und zu in Thunfischnetzen gefangen, die in Küstennähe aufgestellt waren. Das passierte fast nur im Winter, denn Weiße Haie mögen's kühl. "Sie bevorzugen Temperaturen um die 15 Grad Celsius", sagt Morey. Im Sommer aber befinde sich die sogenannte Thermokline, der Grenzbereich zwischen warmem Oberflächen- und dem kälteren Tiefenwasser, in 40, 50 Meter Tiefe. Normalerweise kreuzen die Großhaie dann unterhalb dieser Schicht.

Ihr Auftreten in Europas Badeparadies ist jedoch nicht auf die Balearen beschränkt. Stattdessen zeigt Carcharodon carcharias, wie der Weiße Hai unter Zoologen genannt wird, seit Menschengedenken fast überall im Mittelmeer Präsenz. Historische Texte erwähnen diverse Fänge, unter anderem vor der Küste Südfrankreichs und aus der Adria. Sogar aus dem Bosporus liegen Meldungen vor.

Verstreute Meldungen

Ginevra Boldrocchi, Wissenschafterin an der Università degli Studi dell'Insubria in Como, hat solche Berichte mit einigen Kollegen ausgewertet. Insgesamt konnten die Forscher dabei auf 628 verschiedene Aufzeichnungen zurückgreifen. Die Details der Studie wurden vor kurzem online vom Fachmagazin Reviews in Fish Biology and Fisheries veröffentlicht.

Den gesammelten Daten zufolge scheint der Weiße Hai hauptsächlich in der westlichen Hälfte des Mittelmeers und in adriatischen Gewässern vorzukommen. Vor der relativ fischreichen ägyptischen Küste dürften die Tiere ebenfalls zu finden sein, meint Boldrocchi, doch Informationen von dort schaffen es kaum bis nach Europa.

Einer der offensichtlichen Verbreitungsschwerpunkte liegt allerdings im Bereich zwischen Sizilien und der nordafrikanischen Küste. "Die neuesten Meldungen kommen fast alle aus diesem Gebiet", sagt Boldrocchi. Im Oktober 2015 etwa ging tunesischen Fischern vor der Hafenstadt Sousse ein zwei Tonnen schweres Weibchen ins Netz. Sie töteten den Hai und verkauften ihn an einen Händler. Biologen waren empört. Carcharodon carcharias steht schließlich auf der Roten Liste.

"Weiße Haie haben einen fürchterlichen Ruf"

Ihrer Gefährdung zum Trotz können sich nur wenige Menschen für den Schutz der Raubfische begeistern. "Weiße Haie haben einen fürchterlichen Ruf", betont Boldrocchi. So mancher könnte deshalb gezielt von Fischern getötet werden. Die Tiere scheinen sich in letzter Zeit auch gerne nahe von Thunfischgehegen herumzutreiben. Das schafft zusätzliches Konfliktpotenzial.

Niemand weiß, wie viele Weiße Haie im Mittelmeer leben, erklärt Gabriel Morey. Sicher sei lediglich, dass sie überaus selten sind. Womöglich gebe es nur ein paar Hundert geschlechtsreife Exemplare. Von den Großfischen selbst geht kaum eine Bedrohung aus. Zwar hat es in der Vergangenheit auch an europäischen Küsten vereinzelt Angriffe auf Menschen gegeben, aber in Anbetracht der vielen Millionen unbehelligter Badegäste ist das Risiko offenbar extrem gering. Die letzte Attacke fand 2008 vor der kroatischen Insel Vis statt. Das Opfer überlebte.

Anzeichen für Futtermangel

Es gibt bisher nur wenige Angaben über die natürliche Ernährung von Carcharodon carcharias im Mittelmeer. Mageninhaltsanalysen verzeichnen vor allem Reste von Delfinen, Schwert- und Thunfischen. Auch Meeresschildkröten werden anscheinend des Öfteren gefressen. Ginevra Boldrocchi sieht dies als mögliches Anzeichen für Futtermangel. Schildkröten liefern viel weniger Kalorien als fetter Thunfisch, sagt die Expertin. "Wenn aber solche Beute rar wird, frisst man, was man kriegen kann."

Überfischung hat die mediterranen Thunfischbestände auf einen Bruchteil ihrer ursprünglichen Größe reduziert. Für die Prädatoren bleibt kaum noch etwas übrig. Boldrocchi befürchtet sogar, dass die Haie inzwischen auch zunehmend Leichen fressen könnten. Jedes Jahr ertrinken Menschen auf der Flucht nach Europa. Viele werden nie gefunden.

Die Meldungen über das Vorkommen von Weißen Haien in mediterranen Gewässern umfassen nicht nur ausgewachsene Exemplare. Neugeborene Jungtiere wurden ebenfalls registriert. Carcharodon carcharias ist eine ovovivipare Spezies, nach einer geschätzten Tragezeit von gut einem Jahr bringt das Weibchen zwei bis zehn sofort selbstständige, rund einen Meter lange Junge zur Welt.

Haibaby in der Bucht von Edremit gefangen

Ein solches Haibaby fingen türkische Fischer im Juli 2011 in der Bucht von Edremit. Es durfte wieder schwimmen, aber es war nicht das erste seiner Art. Schon im Vorjahr hatte man zwischen der Insel Lesbos und dem türkischen Festland drei Minihaie in Netzen gefunden. Die Bucht dient vermutlich als Wochenstube. Weitere Brutplätze vermuten Forscher in der Straße von Sizilien und der östlichen Adria.

Das von türkischen Fischern im Juli 2011 gefangene Haibaby wurde wieder freigelassen.
Uzay Sezen

Eine genetische Untersuchung indes lässt eine starke Isolation der mediterranen Population vermuten. Die mitochondriale DNA von vier verschiedenen Exemplaren zeigte größte Ähnlichkeit mit Artgenossen aus dem Pazifik und nicht mit atlantischen Weißen Haien, wie Forscher in den Proceedings of the Royal Society of London B berichten.

"Das ist ein großes Rätsel", betont der Biologe Francesco Ferretti von der Stanford University. Vielleicht stammen die Tiere im Mittelmeer tatsächlich nur von pazifischen Fernwanderern ab. Falls kein Austausch mit dem atlantischen Bestand stattfinde, drohe den mediterranen Haien vielleicht noch schneller das Aus. "Detaillierte Forschung über die Migrationsbewegungen hat deshalb oberste Priorität", meint Ferretti. Doch dafür fehlt es leider noch am Wichtigsten: Geld. (Kurt de Swaaf, 14.7.2017)