Hunderte Millionen von Menschen weltweit verlassen sich nicht auf Entwicklungen von Unternehmen, sondern greifen selbst zum Werkzeugkasten, um die beste Lösung für ihre Problem zu finden. Für Eric von Hippel ist das ein Wirtschaftsfaktor, der bisher ignoriert wurde.

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Eric von Hippel von der MIT Sloan School of Management.

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STANDARD: Ihre Theorien besagen, dass ein großer Anteil aller Innovationen nicht in Unternehmen, sondern von Anwendern in ihrer Freizeit entsteht. Wie meinen Sie das?

Von Hippel: Wir haben herausgefunden, dass es gewöhnliche Anwender und Konsumenten sind, die neue Sachen entwickeln – vom Skateboard über Müsliriegel bis zu medizinischen Produkten. Die Produzenten sagen nicht: Du siehst aus, als möchtest du ein Skateboard, produzieren wir eines! Der Konsument entwickelt es, weil er es für sich haben will und Spaß daran hat. Dann kommt der Sportartikelhersteller und sagt: Es gibt anscheinend einen Markt, ich produziere das. Die Nutzer sind die Pioniere, danach springen erst die Produzenten auf, um das Produkt besser zu machen.

STANDARD: Haben Sie ein Beispiel?

Von Hippel: Das betrifft alle Bereiche, die für Endverbraucher interessant sind, also 60 bis 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Im Bereich medizinischer Geräte sind Patienten den Unternehmen oft weit voraus. Eine Patientin hat die erste künstliche Bauchspeicheldrüse entwickelt, die Diabetes-Patienten abhängig vom Blutzuckerspiegel mit Insulin versorgt. Wer früher als Typ-1-Diabetes-Patient die Insulindosis falsch kalkuliert hat, konnte über Nacht sterben. Dana Lewis wäre das fast passiert. Sie wollte nicht auf eine Lösung warten und hat mit ihrem nunmehrigen Mann Scott Leibbrand in wenigen Wochen ein System programmiert, das die Arbeit der Insulinpumpe in der Nacht automatisch an den Bedarf anpasst. Sie stellte das Design ins Netz, worauf hunderte Patienten es für ihre eigenen Geräte nutzten.

STANDARD: Nicht jeder hat die Fähigkeiten dafür.

Von Hippel: Die Konsumenten arbeiten doch auch für die Hersteller. Sie gehen mit ihren Fähigkeiten am Abend nach Hause und arbeiten an ihren Projekten. Der Erfinder der Federgabel für Mountainbikes arbeitete bei einem Autohersteller. Er war Hobby-Mountainbiker und löste ein Problem, das eine neue Fahrweise mit Sprüngen mit sich brachte. Die Hersteller hielten das zuerst für dumm. Erst als sie sahen, dass der Bedarf da war, sprangen sie auf.

STANDARD: Kann man das Ausmaß dieser Innovationen, die im Eigenheim geschehen, beziffern?

Von Hippel: Niemand hat das Phänomen bisher wahrgenommen oder erforscht. Schumpeter und die anderen Ökonomen, auf denen die Regulierung unserer Wirtschaft aufbaut, haben den Anwender als Innovator ignoriert. Das wurde immer nur den Produzenten zugesprochen. Wir haben Innovationsstudien für verschiedene Länder angefertigt. In Großbritannien sind etwa 6,1 Prozent der Menschen in ihrer Freizeit erfinderisch tätig. Das entspricht 2,9 Millionen Menschen. Es arbeiten aber nur 22.000 Produktentwickler in britischen Unternehmen. Und in China sind es sage und schreibe 90 Millionen Menschen. Ihre Innovationen sind aber unsichtbar, weil kein Geld fließt. Innovation wird in der OECD etwa daran gemessen, wer ein Produkt zuerst auf den Markt bringt. Wenn jemand zu Hause in der Werkstatt für sich ein Skateboard entwickelt und es daraufhin tausende Menschen verwenden, bleibt das unberücksichtigt. Das verschleiert die große Rolle der Nutzer.

STANDARD: Es könnte nun der Fall sein, dass ich unzufrieden bin, wenn ein Unternehmen meine Innovation zu Geld macht, ohne mir meinen Anteil abzugeben. Was passiert dann?

Von Hippel: Niemand hindert einen daran, dass man sein Produkt selbst patentiert und verkauft. Einige Snowboard-Pioniere haben das getan und profitierten finanziell von ihren Erfindungen. Für 90 Prozent der Menschen, die zu Hause etwas entwickeln, liegt die Belohnung aber in der Erfindung selbst. Die Entwicklung des Internets trägt viel dazu bei, solche Erfindungen sichtbar zu machen. Jeder kann sich heute auf Youtube eine Unmenge selbstentworfener Camping-Kocher anschauen, mit Anleitungen, wie man sie herstellt.

STANDARD: Was können Unternehmen tun, um diese Haushaltsinnovationen zu sammeln und zu verwerten?

Von Hippel: Unternehmen können bewusst und strukturiert Erfindungen von Konsumenten nutzen, indem sie geeignete Plattformen zur Verfügung stellen. Der Softwareentwickler Valve betreibt etwa die Videospielplattform Steam. Ein Teil davon ist der Steam-Workshop. Das Unternehmen verkauft Nutzern Spiele, gibt ihnen aber auch gleichzeitig Werkzeuge in die Hand, um diese Spiele zu modifizieren. Man kann also ein Spiel verändern und mit anderen Nutzern teilen. Das Unternehmen beobachtet das und kann erkennen, welche Spielelemente gefragt sind. Der Autohersteller Ford macht Ähnliches mit einer Softwareplattform. Und Lego lädt Jugendliche ein, Designs für ihre Baukästen zu entwerfen.

STANDARD: Wie sollte die Politik mit dem Innovationspotenzial der Konsumenten umgehen?

Von Hippel: Im Moment herrscht große Ungleichheit. Es ist lächerlich, wenn nur Unternehmen mit Förderungen aus Steuergeld unterstützt werden, ein großer Teil der Innovationen aber von den Anwendern herrührt. Man sollte auch die Nutzer unterstützen, ihnen Dinge wie Maker-Spaces, öffentliche Werkstätten, zur Verfügung stellen und ihnen Plattformen geben, auf denen sie ihre Designs teilen. Nutzer geben zudem Milliarden Euro auf dem Weg zu ihren Innovationen aus – und Staaten sind interessiert, möglichst hohe Forschungsausgaben präsentieren zu können.

STANDARD: Sie sagen, dass heute eine günstige Zeit für die Forschung an Free Innovation ist. Inwiefern?

Von Hippel: Die Forschungscommunity sieht, dass ihr nun endlich zugehört wird. Wir können jetzt den Umstand verändern, dass nur noch Produzenten als Innovatoren wahrgenommen werden. Wir können dafür sorgen, dass die Politik Innovation auf neue Art wahrnimmt und entsprechend reagiert. Das ist nicht nur gut für den Wohlstand eines Landes, sondern auch für die Menschen, die glücklicher sind, wenn sie kreativ tätig sein können. (Alois Pumhösel, 12.7.2017)