Eines Tages wird die ganze Wahrheit über den Putsch vom 15. Juli in der Türkei schon herauskommen. Doch den Spekulationen jetzt nachzujagen lenkt nur von den eigentlichen Herausforderungen im Umgang mit der autoritär gewordenen Türkei ab. Viel zu ungeheuerlich ist ja der Vorwurf, der letztendlich gegen Tayyip Erdogan erhoben wird: Der türkische Staatspräsident soll von den Vorbereitungen zum Putsch gewusst und Abmachungen mit Teilen der Armee getroffen haben. Es würde die dilettantische Seite dieses Staatsstreichs erklären und den Umstand, dass die Chefs von Armee und Geheimdienst trotz augenscheinlichen Versagens weiter im Amt sind.

Diese Komplotttheorie würde vor allem aber bedeuten, Erdogan hätte diesen Putsch mehr oder minder kontrolliert laufen lassen können und dabei auch den Tod von 249 Polizisten und Zivilisten in Kauf genommen. Das ist schwer zu glauben.

Die Türkei hat im Moment ganz andere Probleme. Rückgängig machen oder korrigieren lässt sich das Ereignis des 15. Juli 2016 ohnehin nicht. Die große Mehrheit der türkischen Gesellschaft wünscht sich nach einem Jahr Säuberungen und Massenfestnahmen nichts sehnlicher als Normalisierung: Aufhebung des Ausnahmezustands, Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien, Ende der Hexenjagd auf Regierungskritiker und potenziell "illoyale" Bürger.

Weit ist die Türkei bereits abgerutscht. Eine aufgepeitschte, indoktrinierte Anhängerschaft folgt dem Präsidenten, ganz gleich, wohin er will. Weg von den Europäern, hin zu Wladimir Putin. Weg von internationaler Konsenssuche, hin zu außenpolitischen Solospielen. Weg von der parlamentarischen Demokratie schließlich, hin zum Ein-Mann-Staat.

Der Militärputsch vom 15. Juli war Erdogans Glücksfall. Der von wem auch immer organisierte Staatsstreich rettete ihn aus der politischen Lähmung. Nach 14 Jahren an der Macht fand der fromme Autokrat einen zweiten Frühling. Erdogan nannte es ein "Geschenk Gottes". Mit einem Mal war er in der Lage, die Verfassung umzubauen und die doppelte Spitze von Staatschef und Regierungschef abzuschaffen, die ihn seit dem Wechsel ins Präsidentenamt 2014 so sehr einengte.

Der Führer der rechtsnationalistischen Opposition kam Erdogan dabei zu Hilfe. Diese stille Koalition wird fortbestehen, aber sie ist keine Zufälligkeit. Die illiberale Tradition in der türkischen Politik hat wieder die Oberhand gewonnen. Sie war am Ende stärker als die islamistische Reformpartei, mit der Erdogan 2002 angetreten war und die in Ansätzen noch bis zur Regierungszeit von Ahmet Davutoglu existierte – Erdogans Nachfolger im Amt des Premierministers.

An normalen Verhältnissen in seinem Land scheint der Autokrat Erdogan nun nicht interessiert. Der Ausnahmezustand werde so lange andauern wie der Kampf gegen den "Terrorismus", erklärte er jetzt. Es ist eine Chiffre für die Ewigkeit. Aber wohl keine, die das Land ewig hinnimmt. (Markus Bernath, 14.7.2017)