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Mit türkischen Flaggen und Wimpeln ist eine Open-Air-Fotoausstellung geschmückt, die in Istanbul an den Putschversuch vor genau einem Jahr erinnert.

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Umstrittenes Plakat zum Putsch-Jahrestag (Details hier)

Foto: APA/AFP/OZAN KOSE

Ankara/Athen – Es gibt die Geschichte vom Freund des Präsidenten, vom Hochstapler und vom jungen Soldaten, der erschlagen wurde. Alle drei sind mit der Putschnacht in der Türkei vor einem Jahr verbunden. Tayyip Erdogan weinte am Tag danach am Sarg von Erol Olçok. Zafer Onaran wurde der Held, der angeblich vier Panzer mit bloßer Hand aufhielt und, von einem fünften überrollt, nur mit einem gebrochenen Kiefer davonkam. Murat Tekin, Schüler der Luftwaffenakademie in Istanbul, starb auf der Bosporus-Brücke, die Kehle aufgeschlitzt, der Körper zertrümmert mit Eisenstangen.

Tekins Familie wartet bis heute auf ein Ermittlungsverfahren gegen die Totschläger ihres 21-jährigen Sohns. Olçok erhielt noch post mortem eine Auszeichnung. Sein PR-Unternehmen, das alle Wahlkampagnen für Erdogans AKP entwarf, gewann nach dem Verfassungsreferendum im April einen europäischen Wettbewerb der besten Politikberater. In der Putschnacht war Olçok mit seinem Sohn zur Bosporus-Brücke gefahren, um sich den Soldaten entgegenzustellen. Putschisten erschossen erst den Vater, dann den 16 Jahre alten Sohn, der ihm zu Hilfe eilen wollte.

Zafer Onaran wiederum gab erst kürzlich seine Pension als Veteran zurück. Sein gebrochener Kiefer war die Folge eines handfesten Familienstreits; die Schwägerin brachte die Wahrheit ans Licht.

Man weiß so ziemlich alles, was nach dem 15. Juli 2016 geschah, doch nicht wirklich, was davor war. Amateurhaft und komödiantisch nennt Osman Pamukoglu, ein Generalmajor a. D. der türkischen Armee, das Vorgehen der Putschisten. Auch ein Jahr danach sind so viele Fragen offen, dass die Verschwörungstheorien blühen. Viel zu nützlich war dieser Putsch für den türkischen Staatschef und den Ausbau seiner Macht, als dass die Zweifler verstummen würden. Erdogan soll vom Putsch zumindest gewusst haben.

Der Hinweis auf den Coup soll von einem Hubschrauberpiloten gekommen sein. Er hatte den Auftrag erhalten, Hakan Fidan, den Chef des türkischen Geheimdiensts MIT, zu entführen. Der Pilot fuhr stattdessen zum Sitz des MIT in Ankara und warnte vor einem bevorstehenden Putsch.

Kein Anruf beim Präsidenten

Es ist Freitag, 15. Juli, 14.20 Uhr. Zwei Stunden später wird der stellvertretende Armeechef unterrichtet. Um 18.00 Uhr kommt Fidan selbst ins Hauptquartier der Armeeführung. Er berät sich mit Hulusi Akar, dem Chef des Generalstabs. Keiner von beiden ruft den Staatspräsidenten oder den Regierungschef an. Und merkwürdigerweise hatten Akar und Fidan schon am Vorabend, dem 14. Juli, ein langes vertrauliches Gespräch.

Der vierte große Putsch der Armee in der Geschichte der türkischen Republik beginnt gegen 22.00 Uhr, angeblich fünf Stunden früher als geplant. Panzer fahren auf und blockieren in Istanbul die Bosporus- und die Fatih-Sultan-Mehmet-Brücke, allerdings nur auf einer, der asiatischen Seite. 13 Soldaten versuchen, den riesigen Präsidentenpalast in Ankara zu stürmen. Ein Kommando, das Tayyip Erdogan in seinem Ferienhotel an der Mittelmeerküste in Marmaris entführen soll, kommt zwei Stunden zu spät. Erdogan ist bereits in Istanbul gelandet, der Coup ist gescheitert.

Die Putschisten gingen gleichwohl mit großer Gewalt vor: Sie bombardierten das Parlament in Ankara und die nationale Polizeiakademie, feuerten auf den Sitz des Geheimdiensts, erschossen Zivilisten, die sich ihnen entgegenstellten. Ein zusammenhängender Plan aber fehlte, urteilen später Militärexperten. Präsident und Regierung machen dafür sofort die Verantwortlichen aus: Das Netzwerk des Predigers Fethullah Gülen habe diesen Putsch organisiert. Seit Ende 2013 verfolgt die konservativ-islamische Führung in Ankara schon massiv mutmaßliche Anhänger ihres einstigen Partners Gülen, vor allem in Polizei, Justiz und Medien.

Gülenisten verteidigen sich

Vertreter der Bewegung wie auch Gülen selbst, der in den USA lebt, stellen in Abrede, sie hätten etwas mit dem Putsch zu tun. Bildung und sozialer Aufstieg seien das primäre Ziel der Bewegung, erklärt Özcan Keles; eine Unterwanderung des Staats oder gar der Armee habe es nicht gegeben. Keles leitet die Dialog-Gesellschaft in London, die sich als einer von Gülens Ideen inspirierter Verein zur Förderung des Austauschs verschiedener gesellschaftlicher Gruppen präsentiert. Von türkischen Regierungsmedien wurde er als "rechter Arm" Gülens etikettiert. Die Gülen-Bewegung hatte die 1000 besten Schulen in der Türkei, sagt Keles. Die Präsenz von Gülen-Anhängern in der Gesellschaft sei deshalb statistisch unvermeidbar und auch nicht das Problem, sagt Keles. "Doch wenn jemand Parallelaktionen verfolgt, dann ist es ein Problem. Wir unterstützen Rechtsverfahren gegen Leute, die Cliquen geschaffen haben. Das geschieht gegenwärtig nicht in der Türkei", sagt Keles mit Blick auf die Massenentlassungen per Dekret aus dem Staatsdienst.

Hinweise auf Gülenisten während des Putschs wollen die Ermittler aber sehr wohl haben. Zwar zog der Adjutant des Armeechefs, Levent Tükkan, vor Gericht seine Aussage wieder zurück, er sei von der Gülen-Bewegung rekrutiert worden. Doch auf der Luftwaffenbasis Akinci bei Ankara, die offenbar die Koordinierungsstelle der Putschisten war, hielten sich in der Nacht des 15. Juli ein halbes Dutzend Zivilisten auf. Gülen soll sie entsandt haben.(Markus Bernath, 15.7.2017)