Wie wirklich ist die Wirklichkeit? Paul Watzlawicks Frage beschäftigt die abendländische Philosophie bereits seit der Antike. Von Platons Höhlengleichnis über den Universalienstreit des Mittelalters bis hin zu Watzlawicks radikalem Konstruktivismus wurden darauf die unterschiedlichsten Antworten gefunden. Auch für uns Historiker ist die Frage aus erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Persepktive essentiell. Das mag aufgrund perpeturierter Bilder über die Geschichtswissenschaft, die meist noch aus der Schulzeit stammen, ein wenig überraschen. Noch mehr überrascht vielleicht die Richtung, aus der wir uns in diesem Beitrag einer Antwort annähern wollen – nämlich mithilfe digitaler Spiele. 

Historische Wurzeln

In der Vorstellung der meisten untersucht die Geschichtswissenschaft Dinge, die in einer mehr oder weniger fernen Vergangenheit geschehen sind. Tatsächlich geht es aber um Menschliches in seinem zeitlichen Zusammenhang – und der muss nicht lange zurück liegen.

Dabei ist Digitalisierung ohnehin ein ziemlich altes Phänomen. Allererste Ansätze lassen sich sehr weit in die Vergangenheit verfolgen, aber spätestens ab 1800 wird es ernst: Da wurden bereits Maschinen mittels Lochkarten programmiert, Mathematiker wie Charles Babbage experimentierten mit den ersten Computern. Die Geschichte von digitalen Spielen jenseits vereinzelter früher Experimente beginnt in den 1970er Jahren. Gamer konnten zum Beispiel einen weißen Strich auf dem Bildschirm auf und ab bewegen, um einen Pixelball in die gegenüberliegende Spielfeldhälfte zu schießen. Erst die Einführung von Mikroprozessoren brachte digitale Spiele in den Alltag vieler Menschen. Heute spielen Angehörige unterschiedlichster sozialer Gruppen digitale Spiele – am PC, der Konsole oder am Smartphone.

Realitätskonsens

Die technologischen Fortschritte, die aktuelle Spiele von Vorfahren wie "Pong" trennen, sind unübersehbar. Virtual Reality ist der nächste Meilenstein der Spieleentwicklung. Dieser Begriff enthält gleich zwei Bestandteile, die für die Wissenschaft über die Fächergrenzen hinweg schwer verdaulich sind – virtuell und real. Dies führt uns zurück zur eingangs gestellten Frage. Versteht man unter der wirklichen Welt eine, die unabhängig von subjektiver Wahrnehmung besteht, ist sie eigentlich gerade nicht Thema der Wissenschaft. Schon Nietzsche erklärte jede hypothetische Erkenntnis darüber, wie die Welt jenseits menschlicher Erfahrung sei, für irrelevant. Schließlich ist die Wissenschaft eine Methode menschlicher Erfahrung – nichts, was sie über die Welt herausfinden kann ist unabhängig von subjektiven Möglichkeiten der Erkenntnis. Real ist für Wissenschaftstheoretiker von Georg W. F. Hegel bis Paul Watzlawick das, was für ein konkretes Subjekt erfahrbar ist. Die nützliche Unterscheidung in wirklich und unwirklich, die wir im Alltag treffen, beruht auf einem gesellschaftlich ausgehandelten Realitätskonsens. Damit sind jene Erkenntisse über die Welt gemeint, auf die sich mehrere Menschen verständigen können. 

"Pong" ist der Vorreiter aller modernen Games.
Foto: AP/Paul Sakuma

Historische Wirklichkeit

Digitale Spiele sind ebenso real wie jede andere Wahrnehmung. Die Trennung in die "künstliche Wirklichkeit" des Spiels und die extradiegetische "wirkliche Wirklichkeit" rührt auch daher, dass viele digitale Spiele versuchen, letztere zu simulieren. Diese Dimension fällt vielen Menschen häufig als erstes ein, wenn sie sich über die Realität digitaler Spiele Gedanken machen. Ergebnis sind oft Arbeiten wie: "Wo irrt Asassin’s Creed?". Das ist aus zwei Gründen wissenschaftlich unproduktiv. Zum einen stellen solche Überlegungen fast immer reine Beobachtungen dar und stoßen keinen hypothesengeleitenen Erkenntnisgewinn an. Zum anderen negieren sie die Tatsache, dass digitale Spiele ebenso Teil der historischen Realität sind wie andere Erfahrungsräume. Gleichzeitig verweisen derartige Fragen auch auf ein positivisitsches Geschichtsverständnis, dessen Wurzeln tief im Historismus des 19. Jahrhunderts verankert sind. Schließlich implizieren sie, dass es eine wirkliche Geschichte gibt, wie sie "eigentlich gewesen" ist (Leopold von Ranke) und eine unwirkliche Geschichte der Populärkultur. Eine aktuelle Geschichtswissenschaft kann aber nur unter der Prämisse betrieben werden, dass die Geschichte immer auch eine Konstruktion der Vergangenheit in der Gegenwart ist. Diese beruht zwar auf Fakten, muss gleichzeitg aber auch die diskursive Natur von Faktizität berücksichtigen.

Spiele und wir

Spieler sind fast immer in der Lage, die Situation des Spiels von anderen lebensweltlichen Kontexten zu trennen und jeweils unterschiedliche Verhaltensweisen an den Tag zu legen. Wenn die Grenzen verschwimmen, nehmen Mitmenschen das als psychopathologische Störung wahr. Ob sogenannte Gewaltspiele gesunde Menschen zu Amokläufern machen, wird in der Wissenschaft längst nicht mehr seriös diskutiert – ein solches Reiz-Reaktions-Schema ist medientheoretisch und empirisch unhaltbar.

Für Historikerinnen und Historiker sind digitale Spiele als Untersuchungsobjekte unter anderem deshalb interessant, weil sie zwingen, neue Methoden und Zugangsweisen zu entwickeln. Fast alle diese Zugänge sind interdisziplinär. Gehört historische Forschung mit bestimmten digitalen Spielen als Quellen zur Computergeschichte oder zur historischen Informatik, zu den Game Studies, zur Kultur- oder Sozialgeschichte, vielleicht gar zur Archäologie? Das hängt häufig von der Fragestellung ab und führt uns vor Augen, dass die im 19. Jahrhundert etablierten Fächergrenzen häufig nicht mehr recht zum Erkenntnisinteresse von Forschern des 21. Jahrhunderts passen wollen. (Martin Tschiggerl, Thomas Walach, 18.7.2017)