Alle 100 Stühle unter der schattigen Plane auf dem Platz von Los Palos Grandes im Osten der venezolanischen Hauptstadt sind besetzt, auch auf den umliegenden Steinbänken sitzen dicht gedrängt Studenten, Ärzte, Sekretärinnen, Arbeitslose und Pensionisten. "Sich und andere im Notstand informieren", lautet das Thema des Seminars. Redner sind zwei lokale Twitter-Größen. Ganz normale Menschen sind die Antwort Venezuelas auf die "Kommunikationshegemonie" der linken Regierung unter Nicolás Maduro. Sie alle sind potenzielle Bürgerreporter, die lernen wollen, Fake-News und Zensur zu umgehen und ihre eigene Geschichte von der Krise in Venezuela zu erzählen.

Sie erhalten praktische Verhaltenstipps, wie man sich vor Polizei und Tränengas schützt, aber auch redaktionelle Unterweisungen, dass zum Beispiel jedes Video, jedes Foto mit Datum, Ort und Uhrzeit versehen sein sollte.

Dutzende Gratis-Seminare hat die Stiftung der Zeitung El Nacional durchgeführt, mehr als 7000 Venezolaner wurden bisher im Umgang mit digitalen Medien in Krisenzeiten geschult. "Vom Schulkind bis zur pensionierten Ingenieurin, über Politiker, Ärzte und Bischöfe", schmunzelt Patricia Rodríguez, Koordinatorin des Projekts "Reporte ya" (Berichte jetzt).

Schikanen gegen Medien

Ins Leben gerufen wurde das Projekt 2010 – damals als Versuch, die Twitter und Co journalistisch auszuloten. "Uns wurde schnell klar, welchen Schatz wir da in der Hand hatten", erzählt Rodríguez. Denn bald schon begannen die Schikanen gegen oppositionelle Medien. Zuerst verbal, dann wurden Lizenzen entzogen, es folgten Klagen, die Zuteilung von Devisen und Papier wurde immer knapper. Viele bürgerliche Zeitungen, Radio- und TV-Sender hielten dem Angriff nicht stand. Irgendwann verkauften die Besitzer; meist an der Regierung nahestehende Investoren, und die Medien verkümmerten zu Propagandainstrumenten.

El Nacional halbierte zwar seine Auflage, widerstand aber – und wurde nicht enttäuscht. Bald schon erhielt man von Bürgerreportern exklusive Informationen über Medikamenten- und Güterknappheit, zerfallende Fabriken, marode Hospitäler. "Reporte ya" wurde schnell mehr als nur ein Abbild des sozialen und wirtschaftlichen Niedergangs.

Die Plattform fungiert zudem als virtueller Wahlbeobachter, hier laufen Berichte über Zwischenfälle und Unregelmäßigkeiten ein. Die Tweets zwingen die Machthaber zu Reaktionen. "So sehen die Medien der Zukunft aus. Sie müssen einen Nutzen haben für die Leser", sagt Rodríguez.

"Er hat mich getroffen!"

Manches lässt erschauern – etwa der Bericht einer Ärztin aus Guanare, die mitbekommt, wie Sicherheitskräfte Jagd auf vermeintliche Straßenblockierer machen. Sie geht ans Fenster und filmt – bis ein Schuss fällt, Schreie erklingen: "Er hat mich getroffen!" "Während der Rest der Familie Erste Hilfe leistete, postete eine Cousine das Video auf Twitter", schildert Rodriguez. Die Frau überlebte den Streifschuss und wurde zur Berühmtheit. Solche Geschichten erzählt Rodríguez den angehenden Bürgerreportern, doch abschrecken lassen sich davon die wenigsten.

Dutzende der Morde, die es seit Beginn der Proteste gegeben hat, wurden live gefilmt – viele von Bürgern mit dem Handy. "Die Informationen zu bewerten und zu überprüfen ist nicht immer einfach", sagt Rodríguez – und eine Aufgabe ihres Teams. Das geschieht auf die klassische Art: Quellenüberprüfung. "Reporte ya" solle nicht Journalisten ersetzen, sagt Rodríguez, sondern sie ergänzen. "Und wir rüsten uns für den Moment, an dem es gar keine freie Presse mehr gibt und die Bürger Protagonisten werden." (Sandra Weiss aus Caracas, 18.7.2017)