Wie gewaltige Beerdigungszüge wirken die jüngsten Massendemonstrationen in Polen. Über 10.000 Menschen zünden Grabeskerzen vor dem Obersten Gericht in Warschau an. Im Sejm, dem polnischen Abgeordnetenhaus, liefern sich zur selben Zeit die Abgeordneten der nationalkonservativen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der Opposition tumultartige Szenen. Der Streit ist existenziell: Es geht um Sein oder Nichtsein der polnischen Demokratie.

Ein Ziel der jüngsten PiS-Initiative ist das Oberste Gericht, das Urteile in letzter Instanz fällt, aber auch darüber entscheidet, ob Wahlen gültig oder ungültig sind. Es soll liquidiert, alle seine Richter sollen in den Ruhestand versetzt werden. Dann soll das Gericht neu gegründet werden – mit Richtern, die Justizminister Zbigniew Ziobro ernennen würde.

"Kugelschreiber" Kaczynskis

Da bisher der Landesjustizrat über die Unabhängigkeit der Justiz wacht und die Richter im ganzen Land ernennt, soll auch dieses Verfassungsorgan mit einem PiS-Gesetz gleichgeschaltet werden. Präsident Andrzej Duda, der bisher die Richter auf Vorschlag des Landesjustizrates vereidigt, sieht sich durch das neue Gesetz marginalisiert. Schon jetzt leidet er unter dem Ruf, eine Marionette des PiS-Parteivorsitzenden Jaroslaw Kaczynski zu sein, schlimmer noch – dessen "Kugelschreiber", der skrupellos auch verfassungswidrige Gesetze unterschreibt.

Also drohte Duda, das PiS-Gesetz über das Oberste Gericht nicht zu unterschreiben, sollte nicht sein eigener Vorschlag über den Landesjustizrat angenommen werden. Demnach sollen die Abgeordneten neue Richter nicht mit einfacher Mehrheit wählen, sondern mit Dreifünftel-Mehrheit. Das Problem: Nach Polens Verfassung sollen Politiker überhaupt keine Richter wählen, weder mit einfacher noch mit Dreifünftel-Mehrheit. Auch Ziobro machte von sich aus einen Rückzieher. Er will nun nicht mehr die Richter des Obersten Gerichts ernennen, sondern dies dem Landesjustizrat und dem Präsidenten überlassen.

Während die Oppositionellen im Parlament und auf der Straße noch rätselten, ob die Proteste Erfolg hatten und den Präsidenten auf Gegenkurs zur PiS brachten, stürmte im Sejm am Mittwoch gegen zwei Uhr früh Jaroslaw Kaczynski die Rednerbühne und ließ seinen Gefühlen freien Lauf. Es war ein Hassausbruch, der den gesamten Staatsumbau als riesigen Rachefeldzug eines einzigen Mannes dastehen lässt. Kaczynski reagierte auf eine Wortmeldung aus der Opposition, die sich auf seinen Bruder Lech berief, der 2010 beim Flugzeugabsturz von Smolensk ums Leben gekommen war.

Knallrot im Gesicht brüllte Kaczynski: "Wischt euch nicht eure Verrätermäuler am Namen meines Bruders ab – Gott hab ihn selig. Ihr habt ihn zerstört! Ihr habt ihn ermordet! Ihr seid Kanaillen!", bekräftigte Kaczynski eine Verschwörungstheorie von einem Anschlag. Die Oppositionelle, die protestieren wollte, blaffte er an: "Hau ab! Hau bloß ab!"

Popieram Andrzeja Dudę i Jego Prezydenturę

Dem öffentlich-rechtlichen Sender TVP sagte er, die EU-Kommission missbrauche ihre Macht, weil es sich um eine rein innenpolitische Angelegenheit handle. "Das ist eine politisch motivierte Aktion", meinte Kaczynski zum Vorgehen der Kommission.(Gabriele Lesser aus Warschau, 19.7.2017)