Peter Lohmeyer als Tod (links) und Tobias Moretti als Jedermann während einer Fotoprobe wenige Tage vor dem Premierenabend.

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Salzburg – Jedermann, der bußfertigste Schuft in der neueren Theaterliteratur, hat tatsächlich einen Coup gelandet. Bis vor kurzem kannte man Hugo von Hofmannsthals Dramenfigur als äußerst wohlhabenden Mann, der seiner "Buhlschaft" einen Garten "zusamt Lusthaus" spendieren will. Aus der Schenkung wird nur leider nichts mehr. Der Tod bemächtigt sich des Wüstlings, und in der äußerst langwierigen Anbahnung von Reue und Zerknirschung Jedermanns liegt der unversiegliche Reiz des stark weihrauchhaltigen Spiels.

Gröbere Änderungen des Spielverlaufs gleichen liturgischen Reformen, derentwegen man eigentlich Konzile einberufen müsste. Salzburgs Schauspielchefin Bettina Hering hat kürzeren Prozess gemacht und Michael Sturminger mit einer Neuinszenierung binnen Drei-Monats-Frist betraut. Gott scheint als Wettermacher jedenfalls ein unbedingter Parteigänger der alten Max-Reinhardt-Tradition zu sein. Unter deren frömmelndem Banner stand ja auch die etwas aufgeschminkte Spielfreudigkeit der letzten "Neudeutung" von Crouch/Mendes.

Geprassel des Starkregens

Und jetzt das: Der Domplatz versinkt im Geprassel eines Starkregens. Im Inneren des Festspielhauses blickt man auf eine riesige Bühne, die mit den Überresten eines liederlichen Lebenswandels bedeckt ist: Weingläsern, Flaschen, Glocken ohne Klöppeln, den leeren Sockeln einer – bei aller Prachtentfaltung – abgehausten Gesellschaft (Ausstattung: Renate Martin, Andreas Donhauser).

Eine Projektion zitiert exakt die drei mächtigen Bögen der Domfassade. Jedermann (Tobias Moretti) kuschelt sich mittlings, im ersten Stock, auf einer schwarzen Bettstatt. Das auffallend schön gewachsene Hauspersonal verwöhnt der Prinzipal mit Stößen in seine Trompete.

Bettlern und Schuldnern begegnet unser Neo-Jedermann mit der etwas aasigen Bescheidwisserei eines Unterweltbosses. Moretti braucht wohl eine halbe Stunde, bis er sich die Figur des Prassers wie eine Charaktermaske überzieht. Doch schließlich bringt er die Knittelverse als Soundtrack eines akut Sterbewilligen famos zum Singen.

Akuter Säkularismus

Seine nicht unbeträchtliche Barschaft trägt der "reiche Mann" im Metallkoffer spazieren. Jedermann ist nicht nur unermesslich betucht; er verfolgt sogar eine Mission! Den Dom möchte er käuflich erwerben, um ihn in ein "Refugium" für sich und seine gehemmt wirkende Buhlschaft zu verwandeln. Dort, wo das Taufbecken hängt, soll eine Badestube entstehen. Man begreift in der Sekunde, dass es für diesen verstockten Wüstling mit einfachen Bußübungen nicht getan sein wird. Die Diagnose von Jedermanns Krankheit lautet: akuter Säkularismus, verschlimmert durch Aspekte progredierender Blasphemie.

Sturmingers "Jedermann"-Inszenierung ist denn auch eine prachtvoll paradoxe Unternehmung. Sie attestiert uns und Hofmannsthal unrettbare Gottlosigkeit. Aus dem Gastmahl entsteht ein flackerndes Delirium mit hydraulisch nach vorne kippendem Marmorboden.

Moretti flirrt und zuckt und krabbelt wie ein Käfer, nur um dem stark tätowierten Tod in Frauenkleidern (Peter Lohmeyer) zu entkommen. Das Klima hier kündet von allen Schattierungen der Todesangst. Kein Wunder, dass die kräftige junge Buhlschaft (Stefanie Reinsperger) recht früh ihre Solidarität mit dem moribunden Gönner aufkündigt. Man hat freilich schon lange nicht eine so blasse, befangen wirkende Liebesgespielin gesehen.

Vorleistung in Glaubensdingen

Ohne besondere Rücksichtnahme auf das Weihrauchfass beutelt Sturminger Hofmannsthals Text unsanft durch. Auch das lässt sich als kleine Vorleistung in Glaubensdingen verstehen: Gib dein Geheimnis preis, scheint dieser Spielleiter vom dubiosen Text zu verlangen. Nur Messdiener möchte er lieber keiner sein.

Und so reiht sich eine Prachtnummer an die andere, während Moretti immer besser Tritt fasst. Jedermanns Mutter (Edith Clever) verbindet schlohweiße Glaubensfestigkeit mit dem süßlichen Sprechgesang einer Botho-Strauß-Zauberfigur. Glaubensgewissheit erscheint in dieser köstlichen Lesart als Salongeheimnis. Der Mammon (Christoph Franken) – er soll Jedermann auf dessen letzter Reise begleiten – purzelt als struppiger Goldlamettahund über die Treppe und ringt seinen Besitzer wie ein Wrestler nieder.

Geheimnis unseres letzten Stündleins

Die zum Tode hin erkrankten "Guten Werke" (Mavie Hörbiger) entpuppen sich als prächtig hohnlachender Kobold, der "Glaube" (Johannes Silberschneider) fände unter Garantie in keiner katholischen Glaubenskongregation Unterschlupf. Der Teufel (Hanno Koffler)? Kommt aus der Unterbühne hochgekrochen und behält, wie noch stets im "Jedermann", mit seinem Gezeter recht.

Zu "tiefer Reu" besteht im Jahre eins des neuen Salzburger Direktoriums kein Anlass. Das Geheimnis unseres letzten Stündleins gehört zu den unbehaglicheren Aspekten einer im Ganzen – und in unseren Breiten – auf Diesseitigkeit gestimmten Daseinsart. Sturminger hat seinem "Jedermann" kein Messdienerhemd übergestreift. Er hat versucht, unser aller Ratlosigkeit, vor und mit Hofmannsthal, produktiv zu machen. Das ist ihm, auch dank der brütenden Gedankenschwere Morettis, eindrucksvoll gelungen. Tosender Applaus. (Ronald Pohl, 22.7.2017)