Bild nicht mehr verfügbar.

Feldpostkarten und andere Selbstzeugnisse aus dem Ersten Weltkrieg sammelt das Projekt Europeana Transcribe – nicht von großen Männern, sondern von Marinesoldaten, Kampfpiloten, von Soldaten aus dem Schützengraben, aber auch von Frauen im Hinterland.

Foto: Picturedesk/akg-images

Der Medizinstudent Bernhard Veitl musste im Alter von 19 Jahren in den Krieg ziehen. Sein Tagebuch wird bald online verfügbar sein.

Quelle: Wolfgang Veitl

Wien/Linz – "Im Zuge. 27. Scheiding 1915. Heute sind wir von Linz um ½4 h weggefahren. Der Abschied war sehr schön." Der Medizinstudent Bernhard Veitl war 19 Jahre alt, als er in den Krieg ziehen musste. Der junge Linzer versorgte im Ersten Weltkrieg zwischen 1914 bis 1918 als Sanitäter seine verletzten Kameraden an der damaligen Italienfront. Auch er selbst musste bei einer Isonzoschlacht am Monte San Gabriele im heutigen Slowenien kämpfen und überlebte.

Veitl schrieb alles nieder: die Verstümmelungen der Soldaten, die blutigen Kämpfe – auch seine vielen Naturbeobachtungen. Bis zum Jahr 2016 lag das Tagebuch des mittlerweile verstorbenen Gynäkologen und Chirurgen in einer Schublade bei seiner Familie. So wie viele Kriegstagebücher, Briefe oder beschriftete Fotografien von Menschen, die den Ersten Weltkrieg miterlebt haben.

Die erste Seite von Veitls Tagebuch
Quelle: Wolfgang Veitl

Bald wird es möglich sein, sein in Kurrentschrift verfasstes Tagebuch online zu lesen. In eine für die heutige Generation leserlicher Form transkribiert, also abgetippt und durch vollständige Wörter ergänzt. Die Transkription des Tagebuchs ist Teil des länderübergreifenden Open-Source-Projekts Europeana Transcribe. Eine Initiative, welche vom Berliner Unternehmen Facts & Files koordiniert wird und an der sich seit Herbst vergangenen Jahres hunderte freiwillige Einzelpersonen beteiligten, um Dokumente privater Erfahrungsgeschichten aus dem Ersten Weltkrieg für die Wissenschaft und die Nachwelt zu transkribieren.

Einfache Menschen im Blick

Auch 50 Studierende der Johannes-Kepler-Universität (JKU) Linz nahmen daran teil. "Erfahrungsgeschichte beschäftigt sich nicht mit den großen Männern, die immer im Zentrum stehen als Leiter und Lenker", sagt Markus Wurzer, Historiker vom Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Uni Linz. "Sie blickt auf die einfachen Männer und Frauen, die Geschichte durchlebt haben, auf ihre Erfahrungen, auf ihr soziales Wissen, auf ihre Deutungs- und Verhaltensmuster." Wurzer ist Leiter des Kurses Erfahrungsgeschichte, in dem Studierende an der Initiative Europeana Transcribe teilnahmen und unter anderem das Tagebuch des Sanitätssoldaten Bernhard Veitl transkribierten.

Anlässlich des Gedenkjahres 2014 wurden im Rahmen des Vorprojekts Europeana 1914-1918 öffentliche Aufrufe gestartet, derlei Dokumente und Aufzeichnungen zur Verfügung zu stellen. Koordiniert wurde die Crowdsourcing-Initiative von der Staatsbibliothek zu Berlin, der sich zahlreiche weitere öffentliche Institutionen, darunter die Österreichische Nationalbibliothek, anschlossen und ihre Sammlungen beisteuerten. Bis heute wurden auf diese Weise mehr als 26.500 historische Privatdokumente aus 22 Ländern gesammelt, ein Teil davon ist bereits digitalisiert und online verfügbar.

Entstanden ist ein einzigartiges digitales Archiv verschiedenster Selbstzeugnisse: von Marinesoldaten, Kampfpiloten, Soldaten in Schützengräben, aber auch von Frauen im Hinterland, von Kindern oder von älteren Menschen. Seither ist es jedem, der sich für Erfahrungsgeschichte aus dem Ersten Weltkrieg interessiert, möglich, selbst auf der von der Europäischen Union finanzierten Onlineplattform mit Unterstützung eines Mentors, also eines erfahrenen Users, zu transkribieren.

Künftige Historikergeneration

Wurzer nutzte das Onlinetranskriptionstool für seinen Kurs, um den Studierenden deutlich zu machen, dass es so viele verschiedene Kriegserfahrungen gibt, wie es Menschen gibt, die den Ersten Weltkrieg durchlebt haben. Dass historische Dokumente nun kostenlos für die Wissenschaft übertragen werden, sieht der Historiker angesichts der "prekären Situationen, mit der sich der wissenschaftliche Nachwuchs konfrontiert sieht" durchaus auch kritisch. Hingegen sei die zunehmende Tendenz zu Open-Source-Projekten positiv zu sehen, da niemand Besitzansprüche auf das Quellenmaterial stellen kann, es für alle zugänglich ist und für alle bearbeitbar zur Verfügung steht.

Dokumente wie das Kriegstagebuch von Bernhard Veitl verblieben sonst im Privatbesitz und wären nicht für die künftige Historikergeneration und Interessierte zugänglich. So wie für Eva Bammer, Bachelorstudentin der Soziologie und Kulturwissenschaften. Sie besuchte den Kurs Erfahrungsgeschichte, da sie das Transkribieren erlernen wollte, um Gefangenenbriefe ihrer aus Ungarn stammenden Vorfahren übersetzen und eines Tages lesen zu können. Bammer ist unter den zehn "Top Transcribers" des Projekts weltweit und "würde es spannend finden, in diese Forschung einzutauchen". (Bernadette Strohmaier, 27.7.2017)