Der Fall grober Verwahrlosung eines Insassen im Maßnahmenvollzug Stein hatte im Frühjahr 2015 Wellen geschlagen. Danach geriet die Reform ins Stocken. Das sorgt für Ärger in der Justiz.

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Wien – Wenn im Herbst der Nationalrat zum letzten Mal zusammentritt, wird es für die rund 800 Insassen im Maßnahmenvollzug und ihre Angehörigen kein Aufatmen geben. Die lange versprochene Reform der Unterbringung psychisch kranker und teils unzurechnungsfähiger Straftäter wird es nämlich vorerst nicht geben.

Justizminister Wolfgang Brandstetter (ÖVP) legte zwar vergangene Woche einen sogenannten Expertenentwurf vor – ob der Nachfolger Brandstetters diesen auch ins Parlament schicken wird, ist angesichts des ungewissen Ausgangs der Wahl jedoch völlig offen. Brandstetter kündigte am Mittwoch an, über den Sommer in einer informellen Begutachtung Experten einbinden zu wollen.

Reform blieb liegen

Dabei wäre alles schon unter Dach und Fach gewesen. Eine vom Minister beauftragte Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung der Reform hatte im Jänner 2015 ihre Vorschläge vorgelegt, diese waren dann in einen Entwurf eingeflossen. Und dann? "Dann hat der Minister kalte Füße bekommen", ärgert sich Wolfgang Gratz, ehemaliger Leiter der Justizanstalt Mittersteig, einer Maßnahmenvollzugseinrichtung.

Zur Vorgeschichte: Der "Falter" berichtete im Frühjahr 2014 über einen aufsehenerregenden Fall von Verwahrlosung eines psychisch kranken Insassen im Maßnahmenvollzug der Justizanstalt Krems-Stein. Brandstetter zeigte sich damals Medien gegenüber "zornig und betroffen", der Fall sei nicht nur "erschreckend", sondern auch symptomatisch, sagte der Minister: Im Maßnahmenvollzug gebe es "massive, auch strukturelle Schwächen", sagte der Minister und fügte hinzu: "Seit ich diese Funktion habe, liegt mir dieser Bereich im Magen." Brandstetter beschloss die für Herbst geplante Reform vorzuziehen – sie sei dringend notwendig.

Ein Jahr später kam die Wende. Auf dem Ottakringer Markt ging ein geistig verwirrter Mann mit einer Eisenstange auf eine Frau los und tötete sie. Auch dieser Fall schlug mediale Wellen. Diesmal waren es aber insbesondere Boulevardmedien, die diesen Fall dramatisierten – was auch damit zu tun haben könnte, dass der Täter kenianischer Herkunft war. Bald danach kündigte Brandstetter an, dass die Reform wohl nicht so weit gehen würde wie geplant: Die Sicherheit der Bevölkerung habe schließlich Vorrang.

"Populismus"

Das bezeichnet Menschenrechtskonsulentin Marianne Schulze, die ebenfalls Mitglied der Arbeitsgruppe war, gegenüber dem STANDARD als "verantwortungslosen und menschenverachtenden Populismus". Sie verweist auf internationale Kritik an Österreich: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) habe zuletzt die menschenrechtliche Kritik am Maßnahmenvollzug bestätigt: Es gebe dort einen eklatanten Mangel an Therapiemöglichkeiten.

Dass die Zahl der Insassen, wie auch vom Minister oft kritisiert wurde, weiter im Ansteigen begriffen sei, liege nicht daran, dass die Täter gefährlicher werden, sondern sei "systembedingt": Es sei viel zu schwer, aus dem Maßnahmenvollzug entlassen zu werden.

Mangelnde psychiatrische Kenntnisse

Der Grund: "Mangelnde psychiatrische Kenntnisse der Richter und Richterinnen, eine überschaubare Zahl an Gutachtern und nicht vorhandene Standards für die Gutachtenerstellung" führten dazu, dass Insassen in den Einrichtungen dauerhaft festsitzen. Vieles scheitere auch an Unterbringungsmöglichkeiten nach der Entlassung: Es fehle weiterhin an adäquaten Nachsorgeeinrichtungen, kritisiert Schulze.

Dass der Brunnenmarkt-Fall als Begründung für ein Verschieben der Reform auf ungewisse Zeit herhalten müsse, sei vor allem "sachlich nicht fundiert", sagt Gratz. Die vor kurzem präsentierten Erkenntnisse der von Brandstetter eingerichteten Soko Brunnenmarkt (DER STANDARD berichtete) haben nämlich eindeutig ergeben, dass "so ziemlich alles schiefgegangen ist, was schiefgehen konnte": Obwohl mehrere Stellen wussten, dass der Täter gefährlich war, obwohl der Mann bereits zuvor Frauen mit einer Eisenstange angegriffen hatte, hatte sich niemand für eine adäquate Betreuung zuständig gefühlt.

Zahlreiche Missstände

Die Soko habe somit zahlreiche Missstände festgestellt, aus ihrem Bericht gehe jedoch "nicht hervor, dass das Versagen im Fall Brunnenmarkt auf Mängel im Maßnahmenvollzug zurückzuführen ist", sagt Gratz.

Die psychisch kranken und unzurechnungsfähigen Straftäter würden nun also unschuldig zum Handkuss kommen, kritisiert Gratz: "Der Maßnahmenvollzug übernimmt jetzt de facto die Ausfallhaftung für ein behördliches Multiorganversagen."

Fokus auf forensisch-therapeutische Zentren

Volksanwältin Gertrude Brinek hofft jedenfalls, dass der Brandstetter-Entwurf bald umgesetzt wird. Sie begrüßt, dass der Fokus auf forensisch-therapeutische Zentren gelegt werden soll.

Geplant ist aber auch die Unterbringung in überwachten Wohneinrichtungen oder die Überwachung mit Fußfesseln in Verbindung mit psychotherapeutischer Betreuung, was vom Präsidenten des Bundesverbandes für Psychotherapie (ÖBVP), Peter Stippl, als wichtiger Schritt zur besseren Reintegration bezeichnet wird. Alfred Kohlberger vom Verein Neustart hält es für sinnvoll, dass auch die Bewährungshilfe eingebunden werden soll. (Maria Sterkl, 26.7.2017)