Oliver Vitouch: "Wer in Österreich gerade einmal "prüfungsaktiv" ist, benötigt elf Jahre zum Abschluss eines dreijährigen Bachelorstudiums. Das ist weder volkswirtschaftlich noch individuell zielführend."

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Nobelpreisträger Herbert Simon formulierte sie, mit William Chase, 1973: die Zehn-Jahres-Regel. Zusammen mit neueren Befunden bildet sie das Fundament der modernen Expertisetheorie: Um Expertise auf einem Gebiet zu erlangen, braucht es etwa 10.000 Stunden zielgerichteter Übung. Das kann auch weniger als zehn Jahre dauern. Entscheidend sind die akkumulierten Übungsstunden und deren Form: nicht lustvolles Spiel, sondern intensive, verbesserungszentrierte Arbeit. Das gilt für Spitzensportler oder Musiker genauso wie für Juristen oder Wissenschafter.

Im STANDARD fand jüngst die aktuelle OECD-Studie nebst IHS-Zusatzbericht große Resonanz. "In keinem anderen OECD-Land schließen so wenige (Universitäts-) Studierende in Regelstudienzeit ab wie in Österreich": ein alarmierender Befund. Er hat seine Gründe im heimischen Uni-Studienrecht, das viele Rechte, aber kaum Pflichten kennt. Es können beliebig viele Studien parallel inskribiert werden; es gibt keine Begrenzung der Studiendauer; es besteht keinerlei Verpflichtung, zu Prüfungen anzutreten; negative Prüfungen können mindestens dreimal wiederholt werden; das Studium ist (leistungsunabhängig) gebührenfrei; moderate Studiengebühren von 727 Euro jährlich fallen erst an, wenn die Regelstudiendauer um mehr als ein Jahr überschritten wird. Zum Radikalvergleich: In Oxford gibt es keine Prüfungswiederholungen, außer im Krankheitsfall.

Studieren ohne Aufwand unmöglich

Lara Hagen vertrat in ihrem Kommentar die optimistische These, dass die Studierenden es vielleicht besonders genau wissen wollen, was die Studiendauer, aber auch den Studienertrag erhöht, und dass Abschlüsse nicht so wichtig sind. Leider mutet die Perspektive zweckfreien Studiums in Kenntnis der real existierenden Umstände fast schon zynisch an. Die von Hagen zitierte "ursprüngliche Idee universitärer Bildung" stellte auf Adelssprösslinge und die ökonomisch sorgenfreie Bourgeoisie ab. Und dass die österreichischen Studierenden es ganz besonders genau wissen wollen, kann individuell zutreffen, ist aber gewiss nicht der statistische Hauptgrund.

Dass Studieren ohne Aufwand unmöglich ist, steckt schon im Wort "studere" (etwas erstreben, sich um etwas bemühen). Diese Hingabe rührt in der Regel nicht rein von innen her, sondern ist durch systemische Anreize moduliert. Extrembeispiel: An einer Uni mit 20.000 Euro Jahresgebühr kommt kaum wer auf die Idee, aus Lust noch ein Jahr dranzuhängen. Die österreichische Melange – keine Studiengebühren, aber auch sonst keine Verbindlichkeiten, die zu halbwegs zeitgerechtem Abschluss motivieren – trägt nicht dazu bei, ein intensives Studium zu begünstigen. Entsprechend gering ist laut IHS die Studienzufriedenheit, besonders in Massenfächern: Die Systemfaktoren Zugang und Unterfinanzierung kommen hier prekarisierend hinzu.

Argument zweckfreier Bildung zu unrecht benutzt

Hagen spricht auch die Vereinbarkeit von Studium und Beruf an. Ein Blick in andere Länder (zum Beispiel Schweden) lehrt, dass Studieren für Berufstätige dort anders organisiert ist: Verringerte Beschäftigungsstunden und substanzielle Stipendien verhelfen in drei statt zwei Jahren zum berufsbegleitenden Masterabschluss. Das ist zweckmäßiger, als wenn berufsbegleitend über sehr lange Zeiträume minimal studiert wird, mit ungewisser Aussicht auf abschließenden Erfolg. Wer in Österreich gerade einmal "prüfungsaktiv" ist (16 ECTS-Punkte jährlich), benötigt elf Jahre zum Abschluss eines dreijährigen Bachelorstudiums. Das ist weder volkswirtschaftlich noch individuell zielführend.

Dass ein Studium nicht allein der Berufs- und Erwerbsfähigkeit dient, ist unbestritten. Dennoch spielen auch diese Aspekte für die meisten eine wesentliche Rolle. Leider wird das Argument zweckfreier Bildung häufig benutzt, um über die krassen Schwächen des österreichischen Studienrechts hinwegzutäuschen. Damit lügt sich auch die ÖH, wiewohl aus edlen Motiven, chronisch in den eigenen Sack.

Am Humboldt'schen Ideal vorbei

Alles ein Denkfehler, weil wir heutzutage Generalisten brauchen? Gerade das geht am Humboldt'schen Ideal vorbei. Er ging davon aus, dass man sich nach schulischer Allgemeinbildung in einen Gegenstand vertieft, ihm ganz auf den Grund geht – um genau diese Gründlichkeit zu lernen und später auf anderes übertragen zu können.

Ein Studium muss nicht so anstrengend und diszipliniert sein wie eine Laufbahn als Turnerin oder als Musiker. Aber gewisse Züge davon trägt es; ohne Intensität und Hingabe geht es nicht. Es sollte für die rund 7500 Studierstunden bis zum Erlangen eines Masters keiner 20 Jahre bedürfen. (Oliver Vitouch, 31.7.2017)