Seligkeit als Zustand, den Literatur schon immer gesucht hat: Linda Boström Knausgård.

Foto: Christina Ottosson

Linda Boström Knausgård
Willkommen in Amerika

Übersetzt von Verena Reichel
Schöffling 2017
144 Seiten, 18,60 Euro

cover: schöffling & co.

Von Kindern sagt man, dass sie eine rege Fantasie haben. Aber können sie sich auch vorstellen, nicht mehr Kind zu sein? Schon diese Frage ist natürlich durch und durch erwachsen. Sie stellt sich mit besonderer Dringlichkeit bei der Lektüre von Linda Boström Knausgårds "Willkommen in Amerika".

Das Mädchen Ellen, das hier spricht, ist eine exzellente Erzählerin. In ihrem Kopf ist alles Literatur. Dies ist umso bemerkenswerter, als sie im richtigen Leben nicht spricht. Das richtige Leben ist das mit ihrer Familie, mit ihrer Mutter, einer Schauspielerin, ihrem Bruder, der sich in seinem Zimmer einschließt, um dort Musik zu machen, und mit ihrem Vater, der ihr gelegentlich erscheint.

Der Vater ist tot, aber das macht bei einer Figur in einem Text, der ganz im Inneren eines literarischen Ichs spielt, keinen Unterschied. Dass Ellen nicht mehr spricht, hat auch mit dem Tod des Vaters zu tun. Sie hat es sich gewünscht, dass der Vater stirbt. Sie hat dafür zu Gott gebetet, wobei man sich diesen Gott nicht als Großvater Rauschebart vorstellen darf, sondern als eine abstrakte Instanz. Ein Wesen halt, das einen Titel trägt und damit jederzeit in einem Text auftauchen kann.

"Willkommen in Amerika" ist ein schmales Buch, bei dem gar nicht erst der Versuch einer Gattungsbezeichnung auftaucht. Erzählung, kurzer Roman, beides geht, für die Lektüre braucht man nicht mehr Zeit als für einen Kinobesuch oder zwei Folgen "Game of Thrones". Allerdings kann man sich in diesem Buch ganz anders bewegen als in einer linearen Erzählung, denn es geht – wie in den meisten Familien – nicht viel weiter. Stattdessen überlagern sich die Momente, die Stimmungen, die Konstellationen, und der Suspense, ob Ellen vielleicht doch einmal ein Wort zu entlocken ist, ist keineswegs zentral.

Wenn Wünsche wahr werden

Unwillkürlich werden viele Menschen "Willkommen in Amerika" auch in Beziehung zu einer anderen Familiengeschichte setzen, die seit einigen Jahren viele Leser findet. Wie auch anders, schließlich war Linda Boström Knausgård lange Zeit mit Karl Ove Knausgård zusammen, das Paar hat vier Kinder zusammen und 4000 Seiten Buch, die alle der Mann geschrieben hat. In "Willkommen in Amerika" geht es keineswegs um die gleiche Familie, eher dürfen wir an die Beziehung von Karl Ove zu seinem Vater denken und an die von Linda Boström zu ihrer Mutter.

Der Vater von Ellen war auch ein Schwieriger, er hat der Familie so zugesetzt, dass sie ihn sich schließlich nur noch wegwünschen konnte. Mit der Erfüllung dieses Wunsches beginnt Ellen aus dem Leben zu fallen, insofern ist "Willkommen in Amerika" auch eine Variation auf das alte Thema der Gefahr, die daraus erwächst, dass Wünsche wahr werden.

Die psychischen Probleme von Linda Boström, die ebenfalls literarisch (und journalistisch) dokumentiert sind, lassen die Erzählung von Ellen noch einmal in einem anderen Licht erscheinen. Möglicherweise ist dieser äußerst verdichtete Text so etwas wie eine paranoide Vision, der seine Klarheit dem Umstand verdankt, dass nichts daran "stimmt", dass er von einer Art Rollenspiel erzählt, das Ellen mit sich selbst und ihren Nächsten spielt. "Seit Papas Tod lebten wir in einer Art Seligkeit", sagt Ellen (und schreibt Boström). Diese "Seligkeit", die auch stark mit dem Motiv einer "hellen Familie" assoziiert wird, hat etwas von jenem anderen Zustand, nach dem in der Literatur immer schon gesucht wurde.

Sprache und Licht

Dass es diesen anderen Zustand möglicherweise nur um einen hohen Preis geben kann, lässt Linda Boström immer wieder deutlich durchscheinen, und gelegentlich sieht sich Ellen sogar in ihrem ureigensten Selbstverständnis davon berührt: "Ich war ein Kind. Diese Worte kamen mir, als ich mir die Haare föhnte. Ich konnte nicht verstehen, was mit mir geschah, denn da gab es nichts zu verstehen." So schreibt kein Kind, sondern so klingt Literatur, die in einer imaginierten Kindheit nach einem Schlüssel zu einer Dunkelheit sucht, die mehr als nur biografische Gründe haben muss.

"Die Sprache nahm das Licht mit", sagt Ellen über ihren Entschluss, sich durch Schweigen aus der hellen Familie herauszulösen, ohne sie zu verlassen. Irgendwann wird aus dem Skandal auch so etwas wie Alltag. Irgendwann sitzen die Mutter und die Tochter gemeinsam auf dem Balkon und rauchen. Aber auch da bleibt Ellen allein, bleibt sie in einer Sprache, die sie mit niemandem teilt.

"Die fast gesagten Worte pochten in mir", aber es dringt nichts nach draußen. Nur die Leser dieses Buchs können dieses Pochen hören, von dem man sagen könnte, dass es von einer anderen Seite auch an den Kampf von Karl Ove Knausgård klopft, über seinen Vater hinwegzukommen. Man muss die Parallelen zu "Min Kamp" nicht strapazieren, aber durch viele Umstände sind hier nun einmal zwei erzählerische Projekte unweigerlich aufeinander bezogen.

Und so bekommt die stille, dunkle Präsenz von Ellen in ihrer Familie noch einmal eine andere Qualität, die auch viel über die Suche von Frauen nach einem Raum für sich allein erkennen lässt. (Bert Rebhandl, Album, 2.8.2017)