Das Caffè Intra Moenia, Treffpunkt in Neapels Universitätsviertel.

Ingeborg Sperl

Krimiautorin Iris Mueller lebt in Salerno.

Ingeborg Sperl

Friedlich wabern die Schwaden der Grasraucher über die Piazza Bellini im Herzen des Univiertels von Neapel. Vor dem Literaturcafé Intra Moenia sind die wackligen Tische voll besetzt. Das Treffen mit einem Unbekannten erfordert einiges Hin-und-her-Telefonieren. Dann erscheint Fabio Paretta, der nicht so heißt und einen der besten Krimis über Neapel geschrieben hat. Der deutsche Autor möchte sein Pseudonym nicht gelüftet haben, und das mit gutem Grund. Würde man ihn erkennen, bekäme er keine authentischen Informationen mehr, und die sind für seine Romane unabdingbar. Paretta fährt auf Streife mit, in den Bezirken, die seit Roberto Saviano unrühmliche Bekanntheit erlangt haben.

Dennoch ist sein Krimi Die Kraft des Bösen erst einmal kein Roman über die Mafia an sich. Er charakterisiert vor allem diese widersprüchliche, faszinierende Stadt am Golf, in die sich Paretta, der mit seiner Familie in Oberitalien lebt, verliebt hat. "Der Süden verabscheut den Norden, und der Norden hält die Süditaliener für faul und korrupt. Das tiefe Misstrauen des Südens gegenüber dem Staat leitet sich aus der Geschichte her. Neapel war einst eine sehr reiche Stadt, die Savoyer haben sie ausgeplündert und so ihre Kriegskassen und das bitterarme Piemont saniert." Und die Plünderungen gingen weiter. Später wanderten Autoindustrie, Schwerindustrie, Patente und Werke nach Norden. Die Folgen sieht man heute noch.

"In Neapel ist alles hinter Masken verborgen"

In Bagnoli rosten die Industrieruinen vor sich hin, und genau dort, in den heruntergekommenen Arbeitervierteln, die kein Tourist je zu sehen bekommt, siedelt Paretta einen Mord an. Ein Armenpriester hat sich im Glockenturm seiner Kirche erhängt. Franco De Santis kommt einem Skandal auf die Spur, in den hohe kirchliche Würdenträger verwickelt sind.

"In Neapel ist alles hinter Masken verborgen", meint Paretta. Nichts ist, wie es scheint. In seinem Roman kommt eine Szene vor, in der ein Kardinalerzbischof von Neapel einen Kindergarten in einem Armenviertel eröffnet und dabei von der Jugend als Zukunft und so weiter salbadert. Hinter dieser medienwirksamen Schmierenkomödie verbirgt sich aber noch etwas. In Wahrheit könnte es sich um einen Antrittsbesuch, quasi eine Ehrenbezeigung gegenüber dem Camorra-Boss handeln, der dieses Viertel beherrscht und mitbestimmt, wer in das Amt des Kardinalerzbischofs gehievt wird.

Leben mit der Camorra

Oder ein anderes Beispiel, wie das Leben der einfachen Leute von der Camorra beeinflusst wird: Die Questura von Neapel liegt in der engen Medina, wo es kaum Parkplätze gibt. Nun können sich die schlecht bezahlten Polizisten keine Wohnung in der Stadt leisten, sondern leben in den Randbezirken, was heißt, dass sie ihr Auto brauchen, um zum Dienst zu kommen.

Was also passiert? Man zahlt dem illegalen Parkplatzwächter pro Tag etwa drei Euro, damit er auf das Auto aufpasst. Das Geld kassiert die Camorra. "Die einfachen Leute denken sich: Wenn ich drei Prozent Schutzgeld zahle, habe ich was davon, wenn ich dem Staat 21 Prozent Steuern zahle, kriege ich gar nichts dafür."

Grauzonen

Paretta steckt voll solcher Geschichten, er zeichnet nichts in Schwarz-Weiß, sondern schildert im Krimi die Grauzonen, in denen sich auch die Gesetzeshüter bewegen. Ein Mitarbeiter von De Santis handelt mit Handys unklarer Herkunft und vertreibt Tickets, die in der Druckerei seines Onkels "hergestellt" werden, ein anderer schuftet nebenbei in einer Pizzeria – und kommt trotzdem nicht aus der Misere heraus, weil er von einem Kredithai erpresst wird.

Paretta ist in einem als trist beschriebenen Dorf in Franken aufgewachsen, was er als "kulturelle Diaspora" bezeichnet. Aus dieser flüchtete er in das Studium der Germanistik und Philosophie. Eine Zeitlang studierte er in Wien und war vernarrt in die Literatur der k. u. k. Monarchie. Parettas literarischer Anspruch, die Kenntnis einer hochkomplexen Stadt, verbunden mit akribischer Recherche lassen "dem Süden" Gerechtigkeit widerfahren: Neapel für Fortgeschrittene.

Polizistinnen

In Salerno, eine Busfahrtstunde von Neapel entfernt, lebt Iris Mueller. Salerno, das von Bergen und dem Meer auf engem Raum begrenzt wird, hat eine kleine, aber beeindruckende Altstadt, und Mueller hat in ihrem ersten Krimi Lichtertod einen lokalen Brauch zu einem Hauptmotiv gemacht. In den Wochen vor Weihnachten werden hier Plätze und Gebäude aufs Kunstvollste beleuchtet.

Weniger schön ist, dass vor der beleuchteten Fassade des Palazzo Genovese der Kopf eines Ermordeten baumelt ... Den Palazzo kann man in natura bewundern, es gibt nur noch keine Nutzung für das alte Gebäude. Auch das Opernhaus spielt im Krimi eine verhängnisvolle Rolle. Und die studierte Mediävistin hat einen weiteren idealen Schauplatz vor der Haustür. Aus der Altstadt fährt man mit einem Lift aufwärts, um im bezaubernden "Garten der Minerva" zu landen. An den Hang geschmiegt, von einer Quelle bewässert, sind hier Terrassen angelegt, auf denen Heilkräuter gezogen werden.

Spezialistin für mittelalterliche Handschriften

Sie dienten einst als Anschauungsmaterial für die berühmte Medizinschule von Salerno, die als älteste Universität Europas gilt. Dort werden auch Beete gepflegt, die die vier Temperamente und die ihnen zugeschriebenen Elemente thematisieren. Einen kontemplativeren Ort kann man sich kaum vorstellen.

Mueller kann als Spezialistin für mittelalterliche Handschriften die Geschichte mit der Gegenwart gut verknüpfen. Nach dem Studium in Heidelberg promovierte sie in Yale, Fachbereich Medieval Studies. In Neapel lehrt sie an der internationalen Schule und an der University of Maryland Europe. "Da unterrichte ich US-Soldaten, die für ihr späteres ziviles Leben das College nachholen wollen. Die kommen großteils aus armen Familien, es fehlt an Basics, viele fürchten sich vor dem Literaturkurs, besonders vor Gedichten."

Ein lieblicher Schauplatz als Ort des Verbrechens

Es sitzt sich gut in dem kleinen Café im Garten der Minerva. Und dieser liebliche Schauplatz hat als Ort des Verbrechens wohl noch nicht ausgedient. Ebenso wenig wie Muellers Hauptkommissarin Patrizia Vespa und ihre Kollegin. "Ich mag diese Schablonen von kaputten Ermittlern nicht, die entweder drogensüchtig oder Alkoholiker und geschieden sind. Ich schildere die Arbeit von zwei Polizistinnen; die Dynamik unter Frauen ist mir am vertrautesten. Einen Krimi zu schreiben ist schwierig; es ist ungerecht, dass das Genre noch immer unterschätzt wird."

Vespa stammt aus dem Norden Italiens, aus Meran, und versucht, sich dem Süden anzupassen. Und Iris Mueller selbst, die aus Mannheim stammt? "Die Umstellung in Italien ist nicht leicht. Hier herrscht bürokratisches Chaos, aber man biegt es irgendwie immer wieder gut hin. Ein Mittelmaß zwischen Effizienz und Chaos wäre toll." (Ingeborg Sperl, Album, 31.7.2017)