Seit Monaten fordern proeuropäische Demonstranten die Wahrung der polnischen Verfassung, wie sie jetzt noch ist.

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STANDARD: Nehmen die Polen die Europäische Kommission eigentlich noch ernst? Jarosław Kaczyński, Chef der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), lacht jedenfalls nur über die Brüsseler Mahnungen, sich an die europäischen Verträge zu halten ...

Thun: Wenn Kaczyński so lauthals über die Empfehlungen aus Brüssel lacht, marginalisiert er Polen in der EU. Dabei sind wir das sechstgrößte, nach dem Brexit das fünfgrößte Land in der Union. Vielleicht will er mittelfristig Polen aus der EU führen. Oder er versteht die Verträge nicht, an die alle Mitgliedsstaaten gebunden sind und denen alle Polen in einem Referendum zugestimmt haben. In den Verträgen steht ganz klar, dass wir uns an den Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie ausrichten sollen.

STANDARD: Hat die Europäische Kommission ohne Druckmittel überhaupt die Chance, gehört zu werden?

Thun: Das ist tatsächlich ein Problem. Als die EU-Mitglieder sich selbst ein Regelwerk gaben, konnten sie sich nicht vorstellen, dass eines Tages eine Regierung bewusst aus dem Kreis der Demokratien ausscheren würde. Die Kommission, die die Einhaltung der Verträge überwacht, kann zwei Instrumente einsetzen, um ein abtrünniges Mitglied in der Union zu halten: Bei konkreten EU-Rechtsverletzungen kann sie, wie man sieht, ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dieses wird dann vor dem Europäischen Gerichtshof verhandelt, der sehr hohe und damit wirksame Geldstrafen verhängen kann.

STANDARD: Und was ist mit dem zweiten Instrument?

Thun: Das zweite Instrument der Europäischen Union ist dann ein Rechtsstaatsverfahren nach Artikel sieben des EU-Vertrages. Das war schon häufig in Diskussion. An seinem Ende kann ein Stimmrechtsentzug im Europäischen Rat stehen. Dazu aber bedarf es der Einstimmigkeit aller Mitglieder.

STANDARD: Erweist sich die EU nicht als zahnloser Tiger? Ohne die Stimme des aufseiten der Warschauer Regierung stehenden ungarischen Premiers Viktor Orbán kann die Kommission doch keine Entscheidung in Sachen Polen fällen?

Thun: Auch wenn es am Ende nicht zum Stimmentzug kommt, also zur härtesten Disziplinarmaßnahme, so ist doch das laute Lachen Kaczyńskis hörbar. Und dieses Auslachen der Politiker in Brüssel und in den anderen Mitgliedsstaaten, der Werte der EU sowie der Prinzipien von Rechtsstaat und Demokratie entfremdet Polen der europäischen Staatengemeinschaft. Ich fürchte, dass wir so – trotz einer proeuropäischen Einstellung der Gesellschaft – wirtschaftlich und politisch zu einem Außenseiter in der EU werden.

STANDARD: Vielleicht ist Kaczyński das egal? Vielleicht ist ihm der Umbau seines Landes zu einem autoritären Staat wichtiger als die Mitgliedschaft Polens in der EU?

Thun: Es sieht ganz danach aus. Aber die EU kann nur funktionieren, wenn die Mitglieder konstruktiv und solidarisch zusammenarbeiten. Zerstört ein Land sich selbst, seine Verfassung und sein gesamtes Rechtssystem, kann die EU das nicht aufhalten. Das können dann nur noch die Menschen, die mit den EU-Fahnen in der Hand seit Wochen und Monaten auf den Straßen Polens gegen die PiS-Regierung demonstrieren.

STANDARD: Rauswerfen kann die EU ja kein Mitglied, oder?

Thun: Nein, aber die anderen Mitgliedsstaaten wollen sich weiterentwickeln. Wenn die Kaczyński-Regierung das nicht will, dann wird sie die EU dazu auch nicht zwingen. Doch wir landen dann unweigerlich in einer "EU B" und verlieren den Anschluss. Stillstand aber bedeutet Rückschritt. Für uns in Polen wäre das fatal. (Gabriele Lesser aus Warschau, 30.7.2017)