Ob kriechend, hinfallen oder ihn werfend, kennt Ene-Liis Sempers Ensemble keinen Graus vor Gatsch.

Foto: Tiit Ojasoo

In puncto öffentlicher Aufmerksamkeit kann es die Biennale Teatro mit ihren Geschwistern Biennale Arte, Architettura und Cinema nicht ganz aufnehmen. Dabei hat das Internationale Theaterfestival von Venedig nicht weniger Tradition, bis 1934 reichen seine Wurzeln zurück. Doch es sind keine Weltneuheiten, die hier gezeigt werden. Und sein Programm ist überschaubarer als die Material- und Glamourschlachten der Familienmitglieder.

Das Motto Atto primo: Regista hat der neu (bis 2020) als Direktor angetretene Antonio Latella ihm diesmal gegeben. Im Gegensatz zum geschlechtsneutralen Originalwortlaut ist der Übersetzung "Erster Akt: Regisseurin" sein Plan sofort anzusehen. Ausschließlich Theatermacherinnen hat er in die Spielstätten am Arsenale-Gelände eingeladen. Eine jede stellt sich mit gleich mehreren Arbeiten vor.

Goldlöwe für Silbergirlanden

Der Frauenschwerpunkt galt auch für die zum Festivalauftakt vergangenen Dienstag vergebenen Löwen. Der goldene für’s Lebenswerk ging an die deutsche Bühnenbildnerin Katrin Brack. Im Foyer des Teatro alle Tese huldigt man ihr mit hunderten bodentief von der Decke hängenden, silbernen Lamettagirlanden: ihre Ausstattung für die Uraufführung von Ferdinand Schmalz‘ Herzerlfresser am Burgtheater, wo Brack zuletzt auch John Gabriel Borkmann für Simon Stone und René Polleschs Carol Reed ausgestattet hat. Bracks Kulissen würden, so die Preis-Begründung, die Stücke ebenso mitentwickeln wie der Text.

Dieser Vorhang hätte ebenso prima in Maja Kleczewskas Eröffnungsinszenierung des dreiwöchigen Aufführungs- und Workshopreigens gepasst. Die polnische Regisseurin wurde mit dem Silbernen Löwen für "Innovation im Theater" geehrt. Sie nimmt sich oft extremer Figuren an, denn in ihrer Heimat sei das "Andere" wenig akzeptiert und stets unter Verdacht. Theater ist für sie ein sicherer Raum zur Konfrontation, meint sie.

In Venedig konfrontierte die 44-Jährige mit Elfriede Jelineks Wut. Sein Ausgangspunkt sind die islamistischen Anschläge auf das Satiremagazin Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt in Frankreich (Jänner 2015). Statt dem aufgepeitschten Text über Fremdenhass, Patriotismus, rechten Populismus sowie linken Fanatismus szenisch entgegenzuhalten, trieb Kleczewska seine Touren noch höher.

Positive Energie für kleine Boote

Den Einstand der Bebilderung machen reale Fernsehsendungen zur Flüchtlingsfrage, bis die Darsteller dann live die Videoproduktion für die Leinwände über ihren Köpfen in die Hand nehmen und das Spiel sich letztlich ganz auf die Bühne konzentriert. Durchgängige Handlung gibt es keine, dafür exemplarische Figuren. Eine Bikiniträgerin mit großem goldenen Umschnallpenis etwa, die den Menschen in den kleinen Booten auf dem großen dunklen Meer ekstatisch all ihre Energie schickt, die sie sich beim Unterlassen der Befriedigung geschlechtlicher Triebe gespart hat.

Einer im Trainingsanzug skandiert dagegen an, dass vor lauter "Refugees welcome" auf seine Generation vergessen wird. Einer dunkelhäutigen Aufblaspuppe geht die Luft aus, bis sie leichenschlaff in den Armen einer schwarz geschminkten Darstellerin hängt. Es werden ein geschnitzter Jesus von einem als Kreuz am Rücken geschleppt und ein Poledance an einer Rinderhälfte vollführt. Dem folgt eine bekannte Operndiva, die im Gegensatz zu Fluchtgeplagten einfach so eingebürgert wird. Ihre Stimme, ein Geschenk an die Nation. Das ergab in seiner Direktheit viele effektvolle, nur vereinzelt aber darüber hinaus starke Bilder.

Nach der Aufführung sprach das Ensemble die Wut an, mit der sich in Polen gerade die Bevölkerung ihrer Regierung gegenüber behaupte. Und erzählte von erschwerten Arbeitsbedingungen sowie von rechten Medien betriebene Stimmungsmache, unter denen man seit der Aufführung eines kirchenkritischen Stücks vor ein paar Monaten leide. Heftiger Solidaritätsapplaus.

Schlammschlacht

Reduzierter startete Ene-Liis Sempers Gastspiel. So gar nicht passend zu ihren Anzügen und Kleidern tanzten die Darsteller der Estin auf Gatsch. Vom Publikum trennte sie keineswegs übervorsichtig ein gläserner Spritzschutz, denn es wurde ohne Scheu und Eitelkeit alles ausgekostet, was man mit Gatsch tun kann: vom Kriechen darin übers jemanden Heineinstoßen bis zum damit Werfen. Fast ohne Worte, dafür mit großer Präzision und Körpereinsatz entwickelte NO43 Kõnts ein gewitzt-brutales Kammerspiel über zwischenmenschliche Beziehungen zur Schlammschlacht weiter, in der die Männerherde sich machoid und sexuell-gewalttätig an den weiblichen Figuren vergeht. In seiner letzten Phase lässt Semper das Ensemble sich in die Unschuld von Tieren am Wasserloch zurückwünschen.

Die 1969 geborene Künstlerin macht Videos und Perfromances und leitet seit 2004 in Tallin das Theater NO99. Das "große Paradoxon" Mensch ist immer wieder Thema ihrer Stückentwicklungen. Gleichermaßen bekümmert wie amüsiert stehen sie dessen Ängsten, Sehnsüchten, Verhaltensweisen gegenüber, die sich wie Muster immer wieder auf's Neue ereignen.

Goldregen

Auf den ersten Blick verschiedener von NO43 Kõnts hätte Sempers zweite eingeladene Produktion nicht sein können. Ungemein verschwenderischer im Materialeinsatz fiel NO42 El Dorado aus. Doch auch sie war nicht weniger poetisch oder lustvoll.

Ihr Schauplatz ist ein rundes Podest, dank zwölf Lichtkegeln unschwer als Zifferblatt Uhr zu deuten. Ein Clown verfasst dort, bereits auf der Bahre liegend, seinen eigenen ihr angehefteten papierenen Grabstein. Die Arbeit kostet ihn den letzten Nerv. Da zieht eine dem Untergang geweiht scheinende Prozession ein und auf der sich nun in umgekehrte Uhrzeigerrichtung drehenden Scheibe ihre Bahn: spielende Kleinkinder, ein damit geplagter Erwachsener, sein Leben in zwei aneinander gebundenen Einkaufswägen hinter sich herzuziehen, ein Greis schon im schleppenden Gerangel mit der ihm seinerseits bevorstehenden Bahre.

Manches in dem sexuell-religiös aufgeladenen Durcheinander blieb rätselhaft. Es ist unter anderem Memento mori und Parabel auf menschliche Unbelehrbarkeit. Letztere exerziert etwa eine herrliche Szene rund um einen Apfel, ein höchst sinniger Sündenfall 2.0. Zum Abschluss regnete es hunderte goldener Kugeln aus dem Zirkuszeltdach. Überraschungs- und Schauwerte konkurrierten unablässig, ließen aber Tiefe nicht vermissen. Bravo!

Getragen und eher abgetragen

Nathalie Béasse brachte als dritte Regisseurin der ersten Tage einen getrageneren Ton ins Festival. Zumindest in Le Bruit des arbres qui tombent (einem von vier zu sehenden Stücken Béasses, entstanden zwischen 2008 und heuer) wirkte der aber auch etwas abgetragen. Lose setzt Béasse das Thema Familie umkreisende Szenen nebeneinander. Hatte man – bald – begriffen, worauf jede hinauswollte, bot sie kaum mehr eine Überraschung und perpetuierte sich bloß noch, statt tiefer zu dringen oder zu intensivieren.

Das überstrapazierte schon der Anfang mit einer bühnengroßen Plane, die an Seilen gezogen zur Akteurin wurde. Wenn auch an die Plastiksackerlszene aus American Beauty erinnernd, war das eine in der Wirkung zuerst imposante Idee. Doch sind die Ausdrucksmöglichkeiten so einer zudem schlicht von Menschenhand gesteuerten Plane nun mal beschränkt: straff sein, wehen, zusammenfallen. Durch Wiederholung, Langsamkeit und/oder Dauer allein wird nicht plötzlich mehr Bedeutung. Das machte den Abend, wiewohl mit schönen Momenten, eher zäh.

Zwei Wochen lang läuft die Biennale Teatro noch, Arbeiten von Maria Grazia Cipriani, Livia Ferracchiati, Anna-Sophie Mahler, Suzan Boogaerdt/Bianca Van der Schoot und Claudia Bauer stehen noch an. (Michael Wurmitzer aus Venedig, 30.7.2017)