Die Zeit hat kürzlich eine Reportage ihrer Moskauer Korrespondentin Alice Bota über die Gefühle der Menschen in den westlichen Nachbarländern Russlands auf drei Seiten abgedruckt. Sie sprach mit etwa fünfzig Menschen in Estland, Finnland, Weißrussland, der Ukraine und in Georgien über die Fragen: Was will Russland? Und wie weit ist es zu gehen bereit?

Das kurze abschließende Gespräch mit dem russischen Vize-Außenminister Grigori Karassin durfte nicht zitiert werden, sinngemäß hieß es jedoch: Russland wolle gute Beziehungen zu seinen Nachbarn, dass das nicht immer gelinge, liege nicht an Russland. Allerdings ergibt die Reportage ein anderes Gesamtbild der Gefühle der Menschen, die im "nahen Ausland" jener Weltmacht leben, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion fast ein Viertel des Staatsgebietes und Millionen seiner russischen Bürger verlor. Seit dem Krieg gegen Georgien mit der Abspaltung der Provinzen Südossetien und Abchasien 2008, und vor allem nach der Annexion der Krim 2014, gefolgt von der verschleierten russischen Intervention zugunsten der Separatisten in der Ostukraine, wächst die Angst vor allem in den baltischen Staaten, obwohl sie, anders als die Ukraine, zu EU und Nato gehören.

Die proportionell großen russischen Minderheiten in den kleinen baltischen Staaten Estland (30 Prozent der Bevölkerung) und Lettland (27 Prozent) könnten trotzdem als Machthebel für den Kreml dienen. Von Georgien bis zur Krim und der Ostukraine überschritt Russland die roten Linien, um die angeblich von diversen Faschisten bedrohten Russen zu retten.

Nach der Annexion der Krim sagte Präsident Wladimir Putin in einer Rede: Russland sei lange zu schwach gewesen, um die Rechte der Russen, "eines der wohl am meisten verstreuten Völker der Welt", zu verteidigen. Damit sei es vorbei. Es wäre freilich falsch, die expansive und bisher erfolgreiche Strategie Putins nur in militärischen Kategorien zu beschreiben. Die aus dem Kreml gesteuerte Desinformationskampagne im Internet, um russlandkritische Artikel zu bekämpfen und Fake-News zu verbreiten, läuft zum Beispiel auf Hochtouren im benachbarten neutralen Finnland (mit einer 1269 Kilometer langen gemeinsamen Grenze).

Der russische Einfluss wächst auch in den Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Montenegro. Bekannt sind auch die Beschwerden über Attacken russischer Hacker auf Deutschland, Frankreich, die USA und andere Staaten Der Staat habe mit diesen Sachen nichts zu tun, die Hacker seien Einzelgänger, sagt Putin.

Angesichts des Machtvakuums infolge der Lähmung der US-Außenpolitik und rückwärtsgewandter nationalistischer Tendenzen in der EU wächst überall in der freien Welt nicht nur die Zahl der von vermeintlichen Wirtschaftsinteressen motivierten Putin-"Versteher", sondern auch die der offenen Putin-Freunde. Auch in Österreich, wo der gescheiterte Präsidentschaftskandidat und die Nummer zwei der FPÖ offen eine totale Kehrtwende der österreichischen Außenpolitik im Sinne der im Dezember 2016 unterzeichneten Vereinbarung seiner (als künftiger Regierungspartner betrachteten) Partei mit der russischen Staatspartei fordert. (Paul Lendvai, 1.8.2017)