Ausschlaggebend fürs Mobilbleiben sind viele Faktoren – darunter etwa die Frage, ob einen Heimbewohner etwas dazu motiviert aufzustehen.

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Hanna Mayer leitet das Institut für Pflegewissenschaft an der Uni Wien.

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Wien – Menschen, die über Jahre gepflegt werden, verlieren oft nach und nach die Fähigkeit, sich selbstständig fortzubewegen. Obwohl das häufig der Fall ist, wird erst seit ein paar Jahren erforscht, wie verbreitet Bettlägrigkeit in der Langzeitpflege ist und wie es dazu kommt. Für Wien wurde das erstmals 2011 erhoben: Damals war knapp die Hälfte der Bewohner von zwölf Einrichtungen der Teilunternehmung Pflegewohnhäuser im Wiener Krankenanstaltenverbund (KAV) bettlägrig, hielt sich also die überwiegende Zeit des Tages im Bett auf. In den sechs Monaten der Studie stieg die Zahl leicht – um 2,4 Prozentpunkte – an.

Erhoben hat dies das Institut für Pflegewissenschaft der Uni Wien. Unter der Leitung von Institutsvorständin Hanna Mayer erarbeitet man dort nun Präventionsmaßnahmen, die Bettlägrigkeit verhindern sollen. "Aufgrund der Vielzahl der Einflussfaktoren kann nur individuell geklärt werden, was das Mobilsein verlängern kann", sagt Mayer im STANDARD -Gespräch.

Pilotversuch im 2. Bezirk

Daher wurde mithilfe vorangehender Forschungsarbeiten und der Einbeziehung von Pflegepersonen ein Leitfaden erarbeitet, mit dem gezielte pflegerische Fallbesprechungen in tägliche Abläufe integriert werden sollen. Im Pflegewohnheim Leopoldstadt wird dazu ab Herbst ein Pilotversuch gestartet, ein Ausrollen bei Erfolg ist angedacht.

Der Leitfaden erfragt räumliche Gegebenheiten, inwieweit der Bewohner in den Heimalltag integriert ist, welche Hilfsmittel er benutzt, ob er eine Motivation hat, mobil zu bleiben, wie sein Gesundheitszustand ist und vieles mehr. Dann sollen therapeutische und pflegerische Maßnahmen besprochen werden sowie Ideen für den Praxisalltag: etwa ob eine Sitzgelegenheit auf halbem Weg jemanden dazu ermuntern würde, sich über den Gang zu trauen. Oder was oder wer jemanden dazu motivieren könnte, mobil zu bleiben.

Schleichender Prozess

"Die meisten gezielten pflegerischen Maßnahmen setzen bislang in einer Phase ein, in der der Prozess nicht mehr rückgängig gemacht werden kann", warnt Mayer. Andrea Zegelin erforschte 2005 in Deutschland erstmals, wie es zu Bettlägerigkeit kommt, und kam zu dem Schluss, dass ein kritischer Zeitpunkt in dem schleichenden Prozess jener ist, ab dem Menschen ortsfixiert, aber noch nicht bettlägrig sind. Ortsfixiert ist, wer sich nicht mehr allein von einem Ort wie dem Bett oder einem Sessel fortbewegen kann, also nicht selbstständig den Transfer schafft. 2011 waren in den Wiener Heimen 61,8 Prozent der Bewohner ortsfixiert.

Bett als "Territorium"

Ob Heimbewohner mobil bleiben, hängt natürlich stark von ihnen selbst ab: "Welche Ängste sie haben, ob sie etwas dazu motiviert aufzustehen, ob sie die Sorge haben, jemandem Arbeit zu machen", zählt Mayer als Beispiele auf. "Oft wird das Bett auch als einziges 'Territorium' gesehen, das wirklich noch ihnen allein gehört."

Des Weiteren gibt es institutionelle Einflussfaktoren: "Der Stellenwert, den Mobilität in einer Organisation hat. Strukturen, wie zum Beispiel Tagesabläufe, Sicherheitsvorschriften, die Menschen hemmen – zum Beispiel, dass nichts auf dem Gang stehen darf und sich daher nirgends eine Sitzgelegenheit befindet. Ob Mobilität als Aufgabe des Pflegepersonals gesehen wird – oder 'nur' der Physiotherapeuten."

Frage der Lebensqualität

Die Pflegewissenschafterin ist davon überzeugt, dass es im Interesse von Pflegeeinrichtungen sein muss, Menschen möglichst lange mobil zu halten. Sie hält den Leitfaden für in den Pflegealltag integrierbar – trotz knapper Personalressourcen. Zusätzlich könne allein schon die Sensibilisierung für das Thema im Pflegealltag viel bewirken.

"Sich selbstständig fortbewegen zu können ist ein wesentlicher Faktor von Lebensqualität", sagt Mayer. "Jedes Haus muss bestrebt sein, bestmögliche Lebensqualität zu bieten und damit auch werben zu können. Das ist ein Anreiz für Pflegeheime, wegzukommen von dem Image, dass Pflegeeinrichtungen furchtbare Orte seien, an die man nur zum Sterben kommt", zeigt sich Mayer überzeugt. (Gudrun Springer, 1.8.2017)