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Die Seerettung von Flüchtlingen im Mittelmeer steht in der Kritik der Politik. Die italienische Regierung etwa verschärft dieser Tage den Druck auf die dort aktiven Hilfsorganisationen.

Foto: AP/Anna Surinyach

Die Situation zwischen den italienischen Behörden und den NGOs ist angespannt. Italien fordert von den Hilfsorganisationen die Unterzeichnung eines Verhaltenskodex. Darin ist unter anderem enthalten, dass bewaffnete Polizisten an Bord der Schiffe der NGOs gehen dürfen. Die meisten Hilfsorganisationen lehnen das ab. Einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestags zufolge verstößt der Verhaltenskodex gegen das Völkerrecht.

Über die EU und ihren Umgang mit der Flüchtlingsfrage, die Finanzierung der NGOs, die Hilfe vor Ort und die langfristigen Perspektive machen sich die User in den STANDARD-Foren Gedanken. Judith Handlbauer hat Fragen ausgewählt, Irene Brickner und Kim Son Hoang beantworten sie.

Judith Handlbauer: Was wäre die Aufgabe der EU? Wird Italien wirklich in der Situation alleine gelassen? Wie könnte eine Strategie eines gemeinsamen Europa im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation aussehen?

Irene Brickner: Aufgabe der EU ist, Mitgliedsstaaten angesichts von vielen Flüchtlingsankünften wirkungsvoll zu unterstützen. Das passiert zurzeit aber nur auf finanziellem Weg. Als die italienische Regierung im Juli laut überlegte, Rettungsschiffen mit Flüchtlingen und Migranten an Bord künftig das Anlaufen italienischer Häfen zu verbieten, kamen aus Brüssel Geldangebote: 45 Millionen Euro an die libysche Küstenwache, um deren Arbeit zu verbessern, 35 Millionen Euro für das italienische Migrationsmanagement.

Was hingegen überhaupt nicht funktioniert, ist die Aufnahme von Asylwerbern in anderen EU-Staaten: die sogenannte Relocation, die die Erstaufnahmeländer, also Italien und Griechenland, entlasten soll. 2015 wurde vereinbart, 160.000 Asylwerber aus den beiden EU-Grenzstaaten bis September 2017 laut vereinbarten Quoten umzuverteilen, bis Ende Juni war das erst in 21.000 Fällen geschehen. Insofern wird nun Italien allein gelassen, so wie davor Griechenland.

Grund dafür ist die systematische Verschleppung der Relocationpläne – oder etwa im Fall Ungarns, Polens und Tschechiens deren Verweigerung. Das hat meist innenpolitische Gründe: Mit der Zusage, weitere Ausländer ins Land zu lassen, gewinnt man keine nationalen Wahlen. Und es hat mit den politischen Realitäten innerhalb der EU zu tun: Regierungen und Regierungspolitiker der einzelnen Staaten können im EU-Rat sämtliche Pläne der Kommission für ein Zusammenwachsen der Union in Migrations- und Asylfragen abschmettern – und tun das seit Jahren weitgehend.

Eine funktionierende Strategie, um die Flüchtlingsfrage zu meistern, läge in einer Kombination von Ursachenbekämpfung für Flucht und Migration nach Europa – ein ökonomisches und soziales Langzeitprogramm – mit der Bereitschaft, Flüchtlinge nach klaren Regeln in allen Staaten der EU aufzunehmen. Auch ein gemeinsamer Grenzschutz wäre nötig, verbunden mit Möglichkeiten für politisch oder sozial Verfolgte, außerhalb der EU Asylanträge zu stellen. Das sind freilich Pläne und Konzepte, die keine Abschottung Europas zur Folge hätten, wie sie offenbar weitgehend gewünscht wird.

Handlbauer: Immer wieder wird den NGOs in Foren vorgeworfen, sich an der Flüchtlingssituation zu bereichern. User "Ancalagon the Black" würde eine Verstaatlichung der Hilfsorganisation befürworten. Was würde sich ändern, wäre Hilfe nur vom Staat organisiert?

Brickner: Eine Verstaatlichung würde voraussetzen, dass der Staat willens und fähig ist, die Aufgaben der NGOs zu übernehmen. Die Quartiernot in der Flüchtlingskrise 2015/16 lässt zweifeln, dass dem so ist. Damals stellte sich heraus, dass die staatlich organisierten Hilfsstrukturen sehr bürokratisch waren und langsam reagierten. Diese Bürokratismen müssten durch Strukturreformen – in Österreich etwa ein Überdenken von Ausprägungen des Föderalismus – verringert oder sogar ausgeschaltet werden, um humanitäre staatliche Hilfe effektiv zu gestalten.

Eine Verstaatlichung der derzeitigen NGO-Tätigkeiten würde außerdem die Zivilgesellschaft austrocknen. Die Zivilgesellschaft – also das außerparlamentarische politische und private Engagement – ist ein Korrektiv der Staatlichkeit. Das ist meines Erachtens eine wichtige Funktion, vor allem angesichts der zurzeit in Staaten wie Ungarn, Polen und der Türkei wiedererstarkenden autoritären Tendenzen. Dass diese Repression NGO-Vertreter als eine der Ersten trifft (siehe etwa die Verhaftung und Anklage der beiden Amnesty-International-Leiter in der Türkei), kommt nicht von ungefähr.

Ausschließen kann man übrigens leider nicht, dass sich manche NGOs und NGO-Mitarbeiter an der Flüchtlingssituation auch bereichern. Das geschieht in allen Bereichen, staatlichen ebenso wie privaten. Würde nur der Staat humanitäre Hilfe leisten, so würde individuelles Bereichern mangels NGO-Konkurrenz vielleicht sogar öfter unerkannt bleiben.

Handlbauer: Wie und in welcher Höhe werden NGOs neben Spenden noch finanziert?

Kim Son Hoang: Die Finanzierung ist von NGO zu NGO und von Land zu Land unterschiedlich. Manche haben ausschließlich Spenden als Finanzierungsquelle, bei anderen kommen Mitgliedsbeiträge oder etwa Erlöse aus Dienstleistungen dazu, und schließlich variiert – sofern vorhanden – der Anteil staatlicher Gelder. Um der Bezeichnung NGO (Non-governmental Organization), also Nichtregierungsorganisation, gerecht zu werden und unabhängig zu arbeiten, wird oft versucht, keine staatliche Unterstützung anzunehmen oder diese zumindest möglichst klein zu halten. NGOs, die das nicht tun, sind deshalb schon in die Kritik geraten.

Meist legen NGOs ihre Geldflüsse offen – also woher sie das Geld haben und was genau sie damit tun. Oft finden sich diese Informationen auf deren Webseiten oder im Jahresbericht. Eine Kontrolle der Finanzierung ist von Land zu Land unterschiedlich. In Österreich gibt es seit 2001 das Spendengütesiegel, eingeführt von führenden Dachverbänden von Non-Profit-Organisationen und der Kammer der Wirtschaftstreuhänder. Nach einer Prüfung der NGO durch einen Wirtschaftstreuhänder wird das Siegel vergeben, das aktuell 257 Organisationen tragen.

Handlbauer: Wie ist die Gesetzeslage hier konkret? Dürfen NGO-Schiffe Häfen an der afrikanischen Küste ansteuern und dort anlegen? Welche Abkommen gibt es unter anderem mit Libyen?

Hoang: Grundsätzlich weist die für das gesamte Mittelmeer verantwortliche Rettungsleitstelle in Rom (MRCC) die NGO-Schiffe an, in welche Häfen sie mit geretteten Flüchtlingen einfahren sollen – das sind zumeist italienische. NGOs weigern sich, Flüchtlinge nach Libyen zurückzubringen, mit dem Argument, dass diesen dort Folter oder unmenschliche Behandlung droht. Dabei verweisen sie auf Berichte von in Libyen tätigen internationalen Hilfsorganisationen, wonach in Internierungslagern gefoltert und vergewaltigt wird.

Laut Seerecht müssen gerettete Personen zu einem sicheren Ort gebracht werden, wobei der "Place of Safety", wie mir der österreichische Völkerrechtler Gerhard Hafner gesagt hat, nicht genau definiert ist. In einem aktuellen Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des deutschen Bundestags heißt es, ein "sicherer Ort" muss nicht zwangsläufig ein sicherer Hafen sein, sondern es kann auch ein größeres Schiff sein. Auf alle Fälle darf das Leben der Geretteten nicht mehr in Gefahr sein, außerdem müssen ihre menschlichen Grundbedürfnisse, also Nahrung, Unterkunft und medizinische Versorgung, gedeckt sein.

Weiters heißt es in dem Gutachten, dass eine Rückführung geretteter Flüchtlinge und Migranten nach Libyen aufgrund der dortigen Zustände gegen das völkerrechtliche Refoulement-Verbot verstoßen könnte. Laut Genfer Flüchtlingskonvention darf kein Vertragsstaat einen Flüchtling in ein Gebiet zurückweisen, in dem sein Leben oder seine Freiheit bedroht sein könnte. Das Gutachten bleibt in diesem Punkt vage, weil völkerrechtlich gesehen unklar ist, ob das Non-Refoulement-Prinzip auch für private Schiffe gilt. Zum Schluss wird festgehalten, dass eine Rückführung durch private Seenotretter nach Libyen zumindest problematisch ist.

Irgendwelche Abkommen mit Libyen in dieser Richtung sind nicht bekannt, weil ja überhaupt einmal geklärt werden muss, wer in Libyen das Sagen hat. Die international anerkannte Übergangsregierung in Tripolis hat nur die Kontrolle über einen Bruchteil des Landes, ansonsten kämpfen drei Regierungen, zwei Parlamente und etwa 1.700 Milizen um die Macht im Land. Dieses Chaos ist ja auch einer der Gründe, weshalb hauptsächlich von dort Flüchtlingsboote in Richtung Europa in See stechen – denn in diesem Machtvakuum können Schlepper relativ ungehindert agieren.

Handlbauer: Gibt es auch auf der nordafrikanischen Seite NGOs, die im Mittelmeer tätig sind? Was sagt das Push-Pull-Modell der Migration aus, und wird es im Zusammenhang mit der Flüchtlingssituation im Mittelmeer bestätigt?

Hoang: NGOs, die auf nordafrikanischer Seite im Mittelmeer tätig sind, sind weder mir noch unserer Nordafrika-Korrespondentin Astrid Frefel bekannt. Ansonsten sagt das Push-Pull-Modell der Migration aus, dass Menschen ihre Heimat verlassen, weil sie von ihr aus verschiedenen Gründen, etwa Krieg, Dürre oder Armut, weggedrückt werden ("Push"). Auf der anderen Seite können sie durch mehrere Faktoren wie gute Verdienstmöglichkeiten, lockere Einwanderungsbestimmungen oder einfach nur Frieden von einer anderen Region angezogen werden ("Pull").

Im Mittelmeer wird aktuell vor allem NGOs vorgeworfen, ein Pull-Faktor zu sein. Deren Rettungseinsätze, monieren europäische Politiker und die EU-Grenzschutzagentur Frontex, führten dazu, dass Flüchtlinge verstärkt die Überfahrt in Richtung Europa wagen. Argumentiert wird unter anderem damit, dass NGOs mittlerweile für knapp 40 Prozent der Flüchtlingsankünfte in Italien verantwortlich sind.

Die NGOs selbst begründen diese gestiegene Zahl damit, dass sich staatliche Schiffe immer mehr zurückgezogen haben und sie deshalb verstärkt Menschen retten müssen. Auch streiten sie ab, ein Pull-Faktor zu sein, und verweisen stattdessen auf den Push-Faktor Libyen: Dort seien die Zustände unmenschlich, Schlepperbanden würden die Menschen foltern und vergewaltigen. Diese könnten dann nur in Richtung Europa fliehen, um ihren Schleusern zu entkommen.

Der Streit über den möglichen Pull-Push-Faktor sorgt für ziemlichen Wirbel, Stichwort Verhaltenskodex. Manche Studien gehen in die eine Richtung, andere Erhebungen oder Aussagen gehen wiederum vom Gegenteil aus. Eindeutig verifizieren lässt sich weder das eine noch das andere.

Handlbauer: NGOs unter libyscher Flagge – das knüpft an die vorige Frage an. Wäre eine Zusammenarbeit zwischen der EU und Libyen in irgendeiner Form denkbar, wenn es um die Eindämmung des Schlepperwesens und der Hilfe für Flüchtlinge im Mittelmeer geht?

Brickner: Pläne und Vorstöße, um aus Europa kommend in Libyen zu arbeiten, sei es, um die dortige Lage für Migranten und Flüchtlinge zu verbessern, sei es, um diese schlicht auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten, gab es im vergangenen Jahr einige. Sie endeten bisher alle in der Erkenntnis, dass unter den in Libyen herrschenden Bürgerkriegsverhältnissen derlei Initiativen für alle Beteiligten viel zu gefährlich sind und dass die dortige Lage unüberschaubar ist.

Derzeit gibt es etwa von der EU finanzierte Schulungen für die libysche Küstenwache. Zuletzt gab es aber Meldungen, dass diese in weiten Teilen einem libyschen Warlord untersteht. Inwieweit das stimmt, kann verlässlich nicht festgestellt werden, da es in Libyen nach dem Sturz von Staatsoberhaupt Muammar al-Gaddafi infolge einer Intervention der USA, Kanadas und westeuropäischer Staaten sowie des darauffolgenden Zerfalls des Landes in Einflussbereiche verschiedener Stämme und Gruppen keine zentralen Institutionen gibt.

Europa muss sich also erst bemühen, die politische Lage in Libyen zu stabilisieren. Das geschieht derzeit ansatzweise, etwa durch Initiativen Frankreichs. Es müssen staatliche libysche Strukturen initiiert oder geschaffen werden, um der Schleppergruppen, die in Libyen vielfach paramilitärisch agieren, Herr zu werden.

Das heißt aber keineswegs, dass man derzeit nichts gegen die Schlepper sowie zum Wohle der Flüchtlinge tun kann: Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR schlägt vor, in den Ländern, aus denen die Flüchtlinge und Migranten nach Libyen kommen, Auffanglager zu schaffen, um zu verhindern, dass die Menschen in Libyen Repressionen ausgesetzt sind und auf die lebensgefährlichen Boote gehen. Dort müsse man den Menschen aber auch Perspektiven bieten: Existenzgründung im Fall einer Rückkehr nach Hause sowie Resettlementmöglichkeiten in Europa.

Handlbauer: Wie ist die Perspektive Europas im Zusammenhang mit den Lebensumständen in Teilen Afrikas?

Hoang: Das ist eine ziemlich große Frage, die sich nicht eindeutig beantworten lässt. Einige Politiker und Experten warnen vor der großen Völkerwanderung von Afrika nach Europa, während andere darauf hinweisen, dass die meisten Menschen innerhalb von Afrika migrieren. Antonio Tajani, Präsident des Europäischen Parlaments, warnte zum Beispiel davor, dass in den nächsten zehn Jahren bis zu 30 Millionen Afrikaner nach Europa kommen könnten. Woher er allerdings diese Zahl hat, ist nicht bekannt. Auf der anderen Seite hält das UNHCR einmal mehr fest, dass mehr als 40 Millionen der weltweit 65,6 Millionen Flüchtlinge weltweit Binnenflüchtlinge sind – sie also innerhalb ihres Heimatlandes geflohen sind. Die Länder mit den meisten Binnenvertriebenen finden sich allesamt außerhalb Europas, genauso die größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen (sofern man die Türkei nicht zu Europa zählt).

Wie sich nun die Flüchtlings- und Migrationsbewegungen in Afrika entwickeln, kann nicht genau gesagt werden, weil viele afrikanische Länder nicht die Strukturen haben, um entsprechende Daten zu sammeln. Umso schwieriger ist es daher auch vorauszusagen, wie sich die Lebensumstände in Afrika auf Europa auswirken können. Einig sind sich Uno und andere Institutionen offenbar nur, dass sich die Bevölkerung in Afrika von heute etwa 1,3 Milliarden Menschen bis 2050 verdoppeln wird.

Brickner: Sicher müsste, um ein gerechteres Verhältnis zwischen Europa und Afrika zu schaffen, die Wirtschafts- und Zollpolitik der EU geändert werden. Derzeit erdrückt die europäische Wirtschaftsmacht in vielen Bereichen afrikanische Produktionsstrukturen. Ein Beispiel von vielen ist die afrikanische Textilindustrie, die durch Import von Secondhand-Textilien aus Europa vielerorts verdrängt wird. Es gibt aber auch Prognosen, die von einem beachtlichen wirtschaftlichen Aufschwung in Teilen Afrikas in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ausgehen. (Irene Brickner, Kim Son Hoang, Judith Handlbauer, 7.8.2017)