Grafik: DER STANDARD

Flüchtlinge nach der Rettung aus dem Boot werden unweit der libyschen Hauptstadt Tripolis abtransportiert.

Foto: APA/AFP/MAHMUD TURKIA

Tripolis/Genf – Aus Sicht der europäischen Öffentlichkeit ist das in mehrere Teile zerfallene, von bewaffneten Konflikten geprägte Libyen derzeit fast ausschließlich als Ausgangspunkt der Bootsflüchtlinge Richtung Italien von Interesse. Was den Mittelmeerquerungen vorangeht – woher und warum Menschen nach Libyen kommen, welche Wege sie und ihre Schlepper wählen, welchen Gefahren sie ausgeliefert sind – blieb bisher vielfach im Dunkeln.

Zudem gab es bisher keine Antworten auf die Frage, wie man Flüchtlingen und Migranten innerhalb Libyens oder auf dem Weg dorthin (siehe Grafik) am effektivsten Beratung und humanitäre Hilfe zukommen lassen könnte – auch über ihre in vielen Fällen fehlenden Perspektiven in Europa. Im Rahmen einer im Juni veröffentlichte Studie im Auftrag des UN-Flüchtlingshochkommissariats UNHCR ("Mixed Migration Trends in Libya: Changing Dynamics and Protection Challenges") wird das nun versucht.

Wasser, Essen, Beratung

Empfohlen wird die Schaffung mobiler humanitärer Teams im libyschen Süden. Im Wochen- oder Zweiwochenrhythmus sollen diese die wichtigsten Grenz- und Transitorte auf dem Weg zur Mittelmeerküste aufsuchen. Dort sollen sie Wasser, Essen, Hygieneartikel, Unterkunft auf Zeit sowie psychosoziale Unterstützung anbieten, meinen die Experten der auf Krisenstaaten spezialisierten Berater von Altai Consulting und des Thinktanks Impact Initiatives.

Auch gelte es, Grenzschutzpatrouillen zu begleiten, um in der Wüste gestrandeten Personen zu helfen und "Sicherheitskräften Wissen über Rechte, Bedürfnisse und Verletzlichkeit Aufgegriffener zu vermitteln". Und man müsse lokale Behörden und Führer bei Hilfsmaßnahmen unterstützen.

Lebensgefahr in Tripolis

All dies sei als Plan zu verstehen, erläutert Vincent Cochetel, Libyen-Experte des UNHCR. Umsetzbar sei es derzeit nicht, denn UNHCR-Mitarbeiter dürften aus Tripolis immer nur für wenige Tage in den Süden reisen.

Dabei sei Hilfe vor Ort dringend nötig: "Alles, was Menschen daran hindern kann, nach Tripolis und weiter an die Küste zu gelangen, ist gut. Denn sowohl in Tripolis als auch auf dem Meer sind sie in Lebensgefahr", sagt er im Gespräch mit dem Standard. Noch besser wäre, wenn es "gut ausgestattete Aufnahmezentren in Algerien, Niger, dem Tschad, Sudan und Ägypten" gebe, wo den Durchreisenden "andere Perspektiven eröffnet würden". Dazu brauche es aber Aufnahmebereitschaft in der EU. Derzeit fehle diese völlig: "Seit Anfang 2017 konnte etwa aus Niger nur eine einzige Person im Rahmen eines Resettlementprogramms in die EU einreisen", sagt Cochetel.

286 Interviews

Die neue UNHCR-Libyenstudie liefert auch Wissen über die Menschen, die nach und durch Libyen unterwegs sind – sowie über das Vorgehen der Schlepper. Sie basiert auf 286 zwischen Oktober und Dezember 2016 durchgeführten qualitativen Interviews mit Flüchtlingen, Migranten, lokalen Führern, Schleppern in Libyen, den Nachbarstaaten und Italien.

Im Unterschied zu Anfang 2016 seien in Libyen keine Syrer auf der Flucht vor dem dortigen Bürgerkrieg mehr. Sondern vor allem immer mehr Menschen aus Westafrika auf der Suche nach Existenzgrundlagen sowie Ostafrikaner mit möglichen Asylgründen wegen politischer Verfolgung. Die Schlepper wiederum agierten zunehmend grenzüberschreitend und seien schwer bewaffnet. Ihre Preise seien "in den vergangenen Jahren um 30 Prozent gestiegen". (Irene Brickner, 4.8.2017)