Der 1. Mai auf dem Rathausplatz, ein Gemeinschaftserlebnis: Kanzler Christian Kern und ein von der vielen Solidarität etwas ermüdeter Wiener Bürgermeister Michael Häupl bei den diesjährigen Maifeiern.

Foto: Robert Newald

Der Slogan der SPÖ "Ich hol mir, was mir zusteht" spricht das Individuum an, nicht eine Gruppe bzw. ein Kollektiv. Das Bild, das sich aufdrängt, ist eine einzelne Person, die "da draußen" einem Güterberg oder einer Geldmenge gegenübersteht, über die andere verfügen. Inhaltlich geht es um soziale Fragen: prekäre Arbeitsverhältnisse, Mindestlöhne, Kinderarmut, Jobgarantie. Aber ist es gut, diese Fragen in der Zuspitzung nur auf das Individuum zu beziehen und ein solches Bild zu aktivieren?

Denn Gerechtigkeit war für die Sozialdemokratie immer ein kollektives Konzept. Die alte sozialdemokratische Tugend der Solidarität richtet sich auf jene Gruppen, denen es schlechtgeht. Genau diese Vorstellung wurde im Neoliberalismus aktiv bekämpft. Hier gibt es nur Individuen auf der einen und "den Markt" auf der anderen Seite. Margaret Thatcher hat dies als "There is no such thing as society" popularisiert. Das neoliberale Denken leugnet die Existenz von Gruppen, – und organisiert sich zugleich in einem zynischen Doppeldenk in internationalen Netzwerken, um überall den Staat umzuorganisieren. Begleitend wurde in der neoliberalen Theoriebildung (z. B. in Public-Choice-Ansätzen) die Existenz von Kollektivbegriffen wie "öffentliches Interesse" oder "soziale Wohlfahrt" geleugnet. "Gerechtigkeit" oder "Solidarität" gelten ohnehin als Chimären, angesichts des "unternehmerischen Selbst" (das nur sein eigenes Interesse kennen kann) werden sie als Zeichen von Schwäche abgetan. Im Neoliberalismus soll der soziale Diskurs insgesamt beendet werden. Hayek hat einmal gesagt, er verstehe gar nicht, was mit "sozial" gemeint sein könnte.

Stimmung einer Verlorenheit des Individuums

Der Aufstieg des Rechtspopulismus speist sich auch aus der Stimmung einer Verlorenheit des Individuums angesichts "der" Globalisierung, d. h. der Wirklichkeit "des Marktes". Alle Rechtspopulisten bedienen kollektive Vorstellungen. "Unsere Leute zuerst!" und "Unser Geld für unsere Leute" lauten die Slogans der Freiheitlichen. Sie wollen sich zur "sozialen Heimatpartei" stilisieren – während sie konkret soziale Forderungen wie die bedarfsorientierte Mindestsicherung oder Vermögenssteuern ablehnen. Strache hat sich als Robin Hood, als Rächer der Entrechteten inszeniert, der den Armen zurückgibt, was ihnen die Reichen gestohlen haben. Aber hier wird die soziale Frage als völkische Frage umformuliert, genau das macht auch Trump. Soziale Rechte gebühren nur "uns", dem fiktiven "Volk", während sie "den anderen" ("Ausländern", den "Sozialschmarotzern" oder "der korrupten Elite") vorzuenthalten sind.

Diskreditierung jedes kollektiven Denkens

Dieser kollektivistische Ansatz ist – im Gegensatz zu der alten Sozialdemokratie – ausgrenzender Art. "Unsere Leut" der FPÖ sind nicht die armen, bedürftigen Menschen im Land in ihrer Gesamtheit, sondern eine nach völkischen Kriterien ausgewählte Teilgruppe. Wer Teil "des Volkes" (eine nicht definierbare Gruppe) sein darf, bestimmt immer noch die FPÖ. Wer gegen sie argumentiert, wird aus dem freiheitlichen "Volkskörper" ausgestoßen, findet sich als "Volksfeind" wieder.

Der Neoliberalismus hat es geschafft, jedes kollektive Denken zu diskreditieren. Aber individuell und kollektiv sind in der Art, wie wir uns selbst vorstellen, keine Gegensätze, sondern beschreiben zwei Pole. Auf der einen Seite denkt sich jede Person als einmaliges Individuum: Dieses Exemplar, das ich selbst bin, gibt es in der Geschichte der Menschheit nur einmal. Aber zugleich müssen wir uns als soziales Wesen denken. Wenn ich zu mir sage, ich bin ein Mann, ich bin alt, ich habe diesen Beruf ... dann benenne ich die soziale Seite meiner Identität. Hier ordne ich mich einer Gruppe zu, nur so weiß ich, wer ich bin.

Genuin kollektives Soziales

Das neoliberale Konzept eines isolierten Individuums ist ein Denkirrtum in sich. Die SPÖ wäre gut beraten, soziale Fragen als kollektive Fragen zu verstehen. Denn der Erfolg der Rechtspopulisten von Brexit, Trump bis Hofer zeigt, dass in Teilen der Bevölkerung der Wunsch nach sozialer Integration vorhanden ist. Man will sich einem Kollektiv zugehörig fühlen, das auch eine größere soziale Gerechtigkeit verspricht. Es geht nicht um kollektiv (das FPÖ-Bild "des Volkes") versus individuell ("Ich hol mir, was mir zusteht"), sondern darum, das Soziale als genuin Kollektives anzusprechen. Wenn dies die SPÖ nicht pointiert macht, dann kann sich die FPÖ gezielt der sozialen Frage widmen. Sie muss ja gar nicht mehr aggressiv gegen geflüchtete Menschen, gegen Migranten Stimmung machen. Dass die Blauen die Anti-Ausländer-Partei sind, haben sie in vergangenen aggressiven Wahlkämpfen zur Genüge gezeigt. Aber die sozialen Probleme bleiben bestehen. Die Frage ist, ob sie völkisch-ausgrenzend oder solidarisch-integrierend angesprochen werden. Denn viele wollen die Ausgrenzung der FPÖ nicht. Aber ihr Integrationsbedürfnis muss erkannt und thematisiert werden. (Walter Ötsch, 6.8.2017)