Zwar haben sich Liebesbriefe ihrem äußeren Erscheinen nach in den vergangenen Jahrzehnten radikal verändert, doch Metaphern wie die von der glühenden Liebe wie vom romantischen Candle-Light-Dinner fanden sich ebenso einst in Feldpostbriefen wie heute in SMS-Nachrichten.

Foto: iStock/cglade

Salzburg/Wien – "Mein Athmen geht schwer, in mir zittert und siedet alles ... komm mir zu Hilfe." Nein, der Schreiber dieses Briefes ist nicht erkrankt. Es ist Ottokar Hanzel, der 1907 so sein Begehren seiner Verlobten gegenüber beschreibt. Heute wäre die Ausdrucksweise, ob im Brief oder als SMS, definitiv aus der Zeit gefallen. Wie sich die Korrespondenzen von Liebespaaren über 150 Jahre verändert haben, untersuchten die Historikerinnen Ingrid Bauer von der Universität Salzburg und Christa Hämmerle von der Universität Wien.

Dazu lasen sie tausende Liebesbriefe, überwiegend aus dem bürgerlichen Milieu, die sie in der Sammlung Frauennachlässe der Uni Wien vorfanden. Sie näherten sich mit vier Forscherinnen dem Innenleben der intimen Beziehungen. Oft faszinierte nicht nur, was in den Briefen stand, sondern auch deren Gestaltung. Manche sind in schönster Schrift verfasst, mit Schmuckbändern zusammengehalten, so kostbar waren sie für die Besitzerin. Manchmal versteckte sich die Liebesbotschaft unter der Briefmarke.

Foto: Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 67

Der Liebesbrief, das lehrte die Lektüre die Forscherinnen, ist ungemein vielfältig und individuell. Und doch ist er geprägt von der Zeit, in der er entstand, sowohl in der Sprache als auch in den Vorstellungen über Liebe und Zusammenleben, die darin zum Ausdruck kommen. Ihre Erkenntnisse haben Bauer und Hämmerle im kürzlich erschienenen Band Liebe schreiben zusammengetragen.

Der Lehrer und die Schülerin

Die Briefe zwischen Ottokar Hanzel und seiner Frau Mathilde Hanzel-Hübner sind einer der umfangreichsten Nachlässe der Wiener Sammlung. Sie lernten sich im Klassenzimmer kennen. Er, der Lehrer, bereitete sie als Schülerin auf die Matura vor, als sie sich ineinander verliebten. Hanzel-Hübner ist für das beginnende 20. Jahrhundert äußerst emanzipiert. Sie engagiert sich in der Frauen- und Friedensbewegung und erkämpft sich das Recht, zu studieren und Lehrerin, sogar Direktorin, einer Schule zu werden. Auch nach der Geburt zweier Kinder arbeitet sie. Ihr Mann unterstützt sie darin und akzeptiert sie als gleichwertige Partnerin im Beruf. Die Arbeit durchwirkt ihr Schreiben und ist ein verbindendes Element ihrer Ehe.

Das ist eine Ausnahme: Längst nicht alle Männer wünschen sich damals eine berufstätige Frau. Es ist oft wie beim Komponisten Gustav Mahler, der seiner Geliebten, als diese musizieren möchte, brüskiert schreibt: "Wie stellst Du Dir so ein componierendes Ehepaar vor? Hast Du eine Ahnung wie lächerlich und später herabziehend so ein eigentümliches Rivalitätsverhältnis werden muss?"

Aus dem Nachlass von Ottokar Hanzel und Mathilde Hanzel-Hübner
Foto: Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 1

Und doch ist auch Hanzels Rollengefüge in anderen Lebensbereichen für die damalige Zeit typisch. Noch vor der Ehe versteht er sich als Familienoberhaupt und erteilt Ratschläge, wie Hanzel-Hübner und ihre Schwestern mit dem Erbe des Vaters umgehen sollen – nämlich sparsam. Es kommt zur Krise, als seine Frau, ohne ihn um sein Einverständnis zu fragen, einer Familie Geld leiht. Er, Landsturm-Hauptmann, reagiert gekränkt und eifersüchtig auf den Mann der Familie. "Er verkörperte die soldatische Männlichkeit", sagt Hämmerle. Hanzel-Hübner versucht, per Brief zu beschwichtigen: "... denk an und zerstöre nicht, was wundervoll und herrlich in unserem Besitz war: das gegenseitige völlig hingebungsvolle Vertrauen."

So ist der Brief zwischen den Liebenden in Zeiten der Trennung auch ein Medium, das Familienleben auszuhandeln und Konflikte auszutragen. Eifersucht und Treue sind ebenfalls Thema in den Feldpostbriefen.

Möglichkeit der Eheanbahnung

Anders in Friedenszeiten. Im frühen 19. Jahrhundert ist der Brief die einzige Möglichkeit der Eheanbahnung. Mann kann die Auserwählte nicht einfach auf einen Latte macchiato treffen. Sie schreiben einander erst einmal, romantisch und zugetan, "Herzliebchen mein" oder "Schon lange liebt ich heiß und innig dich, bevor ich's wagte, dir's zu offenbaren". Was schwärmerisch und schwülstig klingt, ist, so beteuern die Schreiber, wahres Gefühl.

"Herzliebchen mein" – poetische Worte eines Schreibers im Jahr 1874
Foto: Sammlung Frauennachlässe am Institut für Geschichte der Universität Wien, NL 76 I.

In den Briefen dieser Zeit "war das ganze sexuelle Verlangen oft verdichtet auf einen Kuss als anerkanntes und sagbares Intimitätsritual", so Bauer. Oder aber das Begehren wird als "willkommenes Unanständiges" zwiespältig beschrieben. "Du, Bösewicht, Du, Schlimmer." Was noch anständig ist und mit der christlichen Religion vereinbar, fragen sich die Liebespaare in den Korrespondenzen manchmal gegenseitig.

Leerstelle Geschlechtsverkehr

Schon früh bilden sich deshalb Metaphern aus, mit denen der Wunsch nach körperlicher Vereinigung diskret angedeutet wird. Die Wollust ist ein Feuer, eine innere Glut, ein Verschmelzen und auch ein Hunger. "Auffressen täte ich dich." Der Geschlechtsverkehr aber bleibt oft eine Leerstelle, etwa als Ottokar Hanzel auf den ersten Sex anspielt: "Dichter Wald um uns. Kannst du es fassen, Geliebte? Ich werde dich küssen, ich werde ... (ich darf's nicht sagen)." Ausnahmen fanden die Historikerinnen allerdings in Briefen etwa aus dem Zweiten Weltkrieg, in denen ganz unumwunden auch vom "Lausi" und der "Tuti" die Rede ist, den damaligen Begriffen für die Geschlechtsorgane.

Mit den 1960ern weicht die Scham, über körperliche Liebe zu schreiben. Auch das "Masterszenario Ehe" steht nun infrage, sagt Bauer. "Mit der gesellschaftlichen Modernisierung und dem kulturellen Aufbruch durch 1968 beginnt eine intensive Suche nach neuen Modellen – auch in den Briefen." Die Beziehungen werden brüchiger, weil neue Formen des Zusammenlebens, die heute "Ehe ohne Trauschein", "Partnerschaft" oder "offene Liebe" heißen, damals weder Vorbilder noch Namen haben. Und welchen Zweck erfüllt die Sexualität, wenn nicht den der Fortpflanzung? Die Pille verändert die Antwort auf diese Frage, weil sie den Frauen die Angst vor einer unerwünschten Schwangerschaft nimmt. Das sexuelle Begehren und die Lust von Frauen werden zum öffentlich diskutierten Thema.

Suche nach Identität und Erotik

In dieser Zeit treffen die 16-jährige Karola Schmidt und der 19-jährige Gernot Mehring aufeinander. Geprägt durch den gesellschaftlichen Diskurs wird ihre erste Beziehung vor allem zu einer Suche nach der eigenen Identität und zu einem Erkunden der eigenen Erotik. "Heirate mich bloß nicht. Ich bin schrecklich, ekelhaft, sadistisch und pervers", macht Mehring ironisch seinen Standpunkt in einem Brief klar.

Schmidt ist vor allem mit ihrem eigenen Liebesempfinden beschäftigt und der Frage, was sein darf und was nicht: "Ist es richtig, wenn ich Dich aktiv und manchmal vielleicht stürmisch lieb habe, oder soll ich ganz passiv bleiben?" In den Frauenzeitschriften liest sie von Sexualpraktiken und den Gefühlen, die eine Frau beim Höhepunkt überkommen. "Diese mediale Einbettung der Vorstellungen von der Liebe ist in dieser Form neu und reicht bis heute fort", sagt Bauer. Für Schmidt werden die Erwartungen zur Belastung, zumal ihre Eltern sie ermahnen, sie solle sich hüten wie eine Kostbarkeit. Das Liebesleben erfüllt das Paar nie gänzlich. Beide trennen sich deshalb nach anderthalb Jahren. Heute sind sie anderweitig verheiratet, aber schreiben einander noch – wenn auch keine Liebesbriefe mehr.

Den Hanzels haben die hunderten Briefe, die sie mitunter täglich schrieben, die Ehe gestützt. Eine Trennung stand nie im Raum. "Liebesbriefe stabilisieren die Beziehung, indem sie einen gemeinsamen intimen Erlebnisraum schaffen und Erlebtes intensivieren", sagt Germanistin Eva-Lia Wyss der Uni Koblenz-Landau.

Knappe Länge, direkter Ton

Heute muss die romantische Nachricht in eine SMS oder ein Whatsapp-Format passen. Was ist vom Liebesbrief da noch übrig? Die Botschaften sind in Länge und im Ton knapper und direkter geworden. Und doch sind viele Metaphern etwa von der glühenden Liebe geblieben. Wie vor hundert Jahren erscheint es vielen bis heute romantischer, Sexuelles zu umschreiben, als anatomisch zu sezieren, obwohl das kein Tabu mehr wäre. "Und trotzdem sind die sprachlichen Codes im Liebesbrief bis heute reglementiert. Ein romantisches Abendessen zu zweit bei Kerzenschein ist immer noch der Klassiker einer Liebeserklärung", so Hämmerle.

Von einem Aussterben des Liebesbriefes würden die Historikerinnen jedenfalls nicht sprechen. Im Gegenteil: "Weil Alltägliches heute im Medienmix am Telefon oder im Chat abgehandelt werden kann", glaubt Bauer, "läuft die schriftliche Form wieder mehr auf den reinen Liebesbrief zu." (Susanne Donner, 12.8.2017)