Zu einem guten Festival führen viele Kanäle. Zum klassischen Spielfilm, der die Auswertung im Kino anpeilt, sind auch in Locarno längst andere Formate getreten. Doch während Streaming-Plattformen auf die großen Messen drängen, setzt man im Tessin auf eine Durchmischung der Gattungen und Ökonomien. So haben in diesem Jahr gleich mehrere dokumentarische Arbeiten im Wettbewerb ihren Platz.

Astrid Johanna Ofner ist mit ihrer Verfilmung von Peter Weiss' "Abschied von den Eltern" der einzige österreichische Beitrag in Locarno.
Foto: Filmfestival Locarno

Neben Mrs. Fang vom chinesischen Dokumentaristen Wang Bing, der minutiösen Studie einer sterbenden Frau, war etwa Good Luck von Ben Russell zu sehen, in dem der US-Regisseur die Arbeitswelten zweier Minen gegenüberstellt. Die eine liegt in Serbien 400 Meter unter der Erde und ist ein Relikt der verstaatlichten Industrie, die andere im Dschungel von Surinam, wo illegal nach Gold geschürft wird. Auf der Documenta hat Russell daraus eine Installation geschaffen, die auf vier Räume verteilt ein Ineinanderfließen der Schauplätze ermöglicht hat.

Im Film ist zuerst die Expedition in die Tiefe zu sehen, mit Einstellungen, die die Reise in Realzeit veranschaulichen, dann taucht man quasi am anderen Ende der Welt wieder auf. Nicht zuletzt der Umstand, dass Good Luck auf Super-16-Format gedreht wurde, macht die Arbeit zur äußerst sinnlichen Erfahrung, bei der Handgriffe, Laute und flirrende Oberflächen zu abstrakten Brocken verdichtet werden.

Österreichischer Beitrag

Abschied von den Eltern von Astrid Johanna Ofner ist der einzige österreichische Film, der in Locarno in Konkurrenz läuft, allerdings in der Sektion Cineasti del presente, die dem Hauptwettbewerb dieses Jahr überlegen erscheint.

Ofner hat die autobiografische Erzählung des 1982 verstorbenen deutschen Schriftstellers Peter Weiss auf so behutsame Weise auf die Leinwand gepinselt, dass man ihr mit gespannten Sinnen folgt. Gelesen vom Schauspieler Sven Dolinski, der in einigen Szenen auch als Protagonist auftritt, hält sich Ofner an die Reiseroute von Weiss' Text. Die äußere Bewegung, von der Jugend in Bremen bis zur erzwungenen Flucht der Familie nach London, trifft auf die innere des jungen Mannes, der noch in der Erinnerung mit seinen eigenen Dämonen, seinem Drang nach Freiheit und einer künstlerischen Laufbahn kämpft.

Ofners zarte, assoziative Bildsprache lässt den von Zweifeln erfüllten Worten den Raum, den sie zum Atmen brauchen. Zugleich fügt sie ihnen eine Welt hinzu, in der sie Nachhall finden. Das Überdeutliche ist Ofner dankenswerterweise zuwider: So wird der Nationalsozialismus auf eine unscharfe Einstellung Hitlers beschränkt; erste jugendliche Irritationen gegenüber einer Frau sind als fließende körperliche Teilansichten aufgelöst.

Episodische Skizzen

In der gleichen Sektion wie Abschied von den Eltern lief auch Dustin Guy Defas Ensemblefilm Person to Person, der eine Handvoll episodischer Skizzen zu einem Parcours durch New Yorker Alltäglichkeiten bündelt. Es sind Motive wie enttäuschtes Vertrauen oder die Unmöglichkeit, auf die Bedürfnisse des anderen einzugehen, die die pointierten Geschichten lose verbinden, ohne dass sie Defa dramaturgisch zusammenführen muss.

Zero Media

Eine der schönsten erzählt von einem Vinylsammler, dem ein gefälschtes Original vom Bebop-Virtuosen Charlie Parker angedreht wird. Nach einer langen Verfolgungsjagd auf dem Fahrrad hält der Geprellte dem Betrüger eine Lektion über seine Liebe zur Musik. Defa schreibt wunderbar verkorkste Dialoge und hat ein Auge für die Vielfalt menschlicher Ausweichmanöver. Dies ist einer der Filme von Locarno, denen man auch dringend einen Kinostart wünscht. (Dominik Kamalzadeh, 10.8.2017)