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Die Provinz Shanxi, nordwestlich von Beijing, ist so etwas wie das schwerindustrielle Herzland der Volksrepublik China. Es ist vielleicht kein Zufall, dass von hier auch die beiden wesentlichen Filmemacher des Landes stammen: Jia Zhangke und der Dokumentarist Wang Bing. Beide beschäftigen sich mit den menschlichen Kosten einer Modernisierung, von der man sich keinen Begriff gemacht hat, bevor man nicht zum Beispiel "West of the Tracks" (2003) gesehen hat, eine Chronik der Abwicklung von Fabriken, deren Stunde längst geschlagen hat.

Auf neun Stunden konzentrierte Wang Bing das enorme Material, das er weitgehend allein gedreht hatte – am Ende ist der Arbeiter, einst der Stolz des kommunistischen Regimes, ein Sammler von Überbleibseln eines eisernen Zeitalters geworden. Projekte dieser Art wären nicht denkbar ohne die Digitalisierung. Wang Bing, geboren 1967, durchlief noch eine konventionelle Foto- und später Filmausbildung in Peking. Der Durchbruch zu einer eigenen Vision ging mit kleinen DV-Kameras einher, die es ihm ermöglichten, sich fast unsichtbar zu machen und viele Stunden zu filmen.

Auch im Kunstbetrieb gefragt

So auch für einen der Filme, mit denen Wang Bing in diesem Jahr seinen endgültigen Durchbruch im Westen schaffte: "15 Hours" ist deswegen 15 Stunden lang, weil der Arbeitstag in einer Jeansschneiderei eben so lange dauert. Eine Retrospektive bei der Documenta und die Präsentation von "15 Hours" in Athen sind nur ein Signal, dass längst auch der Kunstbetrieb ein Auge auf den Einzelgänger geworfen hat.

Was Wang Bing macht, braucht allerdings die Konzentration eines Kinosaals. Nach dem Erfolg mit "West of the Tracks" blieb er seiner Methode treu, geläufige Zeitmaße weit zu überschreiten: In "Fengming He" erzählt ein Opfer der Kulturrevolution ihre Lebens- und Leidensgeschichte, in "Three Sisters" schildert Wang Bing das Leben von Kindern in einer abgelegenen Berggegend.

Die Unmenschlichkeit, mit der das Mao-Regime Gegner buchstäblich Erde fressen oder verhungern ließ, ist nur die Kehrseite der Kosten, die China auf seinen Sprüngen zur globalen Supermacht unter der eigenen Bevölkerung verursacht hat. Auch mit seinem neuen Film "Mrs. Tang", für den er nun in Locarno mit einem Goldenen Leoparden ausgezeichnet wurde, erweist sich Wang Bing als Humanist des konkreten, gefährdeten Lebens, das in keinen Plan passt als den, den Blick nicht abzuwenden. (Bert Rebhandl, 13.8.2017)