Sich verbiegen für die Pflege: Wer sich um kranke Angehörige kümmern muss, hat eine große Bürde zu tragen. Die Politik reagiert darauf.

Illustration: Francesco Cioccolella

Recht einig scheinen sich die Parteien auch darin zu sein, dass Pflegeberufe attraktiver werden müssen.

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Pflege ist etwas, das andere trifft, nur mich nicht. Diese Denkart herrscht in Österreich vor, ist Hanna Mayer, Leiterin des Instituts für Pflegewissenschaft an der Universität Wien, überzeugt. Wir wissen, dass wir und unsere Angehörigen mit jedem Tag älter werden, doch der Gedanke, dass jemand Nahestehender oder man selbst eines Tages den Alltag nicht mehr alleine meistern kann, wird lieber verdrängt.

"Pflege geht uns alle an", mahnt denn auch Sozialminister Alois Stöger (SPÖ). Die Zahlen zeigen unerbittlich: Pflege betrifft sehr viele Menschen ganz unmittelbar. Insgesamt waren im Mai 2017 genau 455.239 Personen in Österreich pflegebedürftig. Sie erhalten rund 2,5 Milliarden Euro an Pflegegeld. Rund 80 Prozent von ihnen werden zu Hause von Angehörigen umsorgt – wie eine Studie des Bundesinstituts für Gesundheitswesen im Jahr 2005 gezeigt hat. Die meisten der Pflegenden sind Frauen.

Die Langzeitversorgung Älterer, die auf Hilfe angewiesen sind, wird künftig immer mehr Menschen treffen, ob als zu Pflegende oder als Angehörige, die Aufgaben übernehmen oder andere dafür organisieren. Machte der Anteil der über 65-Jährigen im Jahr 2015 noch 18,5 Prozent an der Gesamtbevölkerung aus, werden dies im Jahr 2060 bereits 28,4 Prozent sein. Aufgrund des Altersanstiegs wird es mehr Menschen mit demenzieller Beeinträchtigung geben – derzeit liegt die Zahl bei etwa 115.000 bis 130.000 Personen.

Ruf nach einfacheren Strukturen

Wie soll man den daraus entstehenden Herausforderungen begegnen? Die politischen Parteien könnten sich bei aller Wahlkämpferei sogar auf die ein oder andere gemeinsame Botschaft verständigen: etwa dass es eine Verschlankung der Strukturen und eine Vereinheitlichung quer über alle Bundesländer brauche oder dass pflegende Angehörige bestmöglich unterstützt werden müssten.

Beim Stichwort Verschlankung schwebt Sozialminister Stöger und ÖVP-Sozialsprecher August Wöginger ein gemeinsamer Topf aus Mitteln der Länder und des Bundes vor. Bei Stöger wären darin auch Gewinne aus einer Erbschaftssteuer enthalten, gegen die sich die ÖVP aber sträubt. Auch bei FPÖ und Grünen, Neos ist man für eine Vereinfachung der vorhandenen Strukturen und ein Ende des "Fleckerlteppichs" (Neos). Alle erhoffen sich hier ein Freiwerden von Mitteln, die man dann in den Bereich stecken könnte.

Die neun Bundesländer, die für die Einrichtung von Pflegeheimen und den Ausbau mobiler Dienste zuständig sind, organisieren die Versorgung jeweils nach ihren eigenen Vorgaben – Vereinheitlichungsversuche verliefen bisher stets im Sand. Ein bundeseinheitlicher Personalschlüssel in Pflegeeinrichtungen ist beispielsweise aktuell in weiter Ferne – Bemühungen dahingehend gab es schon.

Aufgrund der großen Unterschiede lassen sich die Versorgungssituationen der Bundesländer nicht einmal gut miteinander vergleichen. Dabei herrscht offenbar ein breiter politischer Konsens darüber, dass es einheitliche Qualitäts- und Mindeststandards in der Pflege bräuchte.

Was übernimmt der Staat?

"Derzeit wissen wir nicht einmal, was wir finanzieren sollen", gibt Gerald Loacker, Sozialsprecher der Neos, zu bedenken. "Es gibt keinen allgemeinen nationalen Pflegestandard", kritisiert er. Jeder Österreicher sollte aber wissen, was auf ihn zukommt, wenn er pflegebedürftig wird: Was übernimmt der Staat, was muss ich, so ich es mir leisten kann und will, selbst finanzieren?

Wer in ein Pflegeheim zieht, hat durch die kürzlich beschlossene Abschaffung des Pflegeregresses eine Sorge weniger: Die Länder dürfen nicht mehr auf das Privatvermögen von Pflegeheimbewohnern zurückgreifen. Den Bundesländern gehen dadurch Mittel verloren, zudem rechnen sie mit zusätzlichem Andrang auf die stationäre Versorgung, was mit weiteren Kosten für sie und für Gemeinden verbunden ist.

"Stationäre Pflege wird aufgrund der Demografie zunehmen", ist zudem ÖVP-Sozialsprecher Wöginger überzeugt. Wie die Pflegeeinrichtung der Zukunft aussehen soll, da herrschen allerdings unterschiedliche Vorstellungen. Häuser mit rund 100 Plätzen wären aufgrund ihrer maximalen Effizienz optimal, meint Wöginger.

Kleinere Einheiten – "keine neuen Bettenburgen, sondern dezentrale Lösungen" – halten die Neos entgegen. Was sagt die Expertin? "Der Bedarf ist jeweils sehr unterschiedlich, und es gibt nicht die eine Pflegeform für alle", sagt Pflegewissenschafterin Mayer. Daher sei das Wichtigste, dass das Angebot breit und flexibel ist.

Flexible Angebote

"Meine Vision ist, dass man jeweils in größeren Sprengeln unterschiedliche flexible Angebote hat. Man könnte zum Beispiel Pflegeheime zu Pflegezentren machen, wo Menschen zur Community-Nurse direkt mit Fragen zu ihrer eigenen Gesundheit, aber auch zur Gesundheit und Betreuung von pflegebedürftigen Angehörigen kommen können.

Hier kann es dann auch direkte Beratung zu der besten Betreuungsform im individuellen Fall geben. Und hier könnte dann auch die Vermittlung von 24-Stunden-Betreuung und gegebenenfalls auch deren Qualitätssicherung eingebunden sein", skizziert Mayer.

Das Angebot müsse sehr niederschwellig sein und sollte sowohl Beratung zu pflegebezogenen Alltagsfragen als auch Beratung für alle Pflege- und Betreuungsformen bieten. "Die Community-Nurse soll den Hausarzt nicht ersetzen, aber sehr wohl auch ein Stück weit die Verantwortung übernehmen", sagt Mayer.

Wie die Zukunft auch aussehen mag, die Pflege durch Angehörige zu Hause wird weiterhin ein wesentliches Standbein bleiben. Sie ist zudem die günstigste Variante für die öffentliche Hand. "Der Staat erspart sich hier eine Menge Kosten", sagt Judith Schwentner, Sozialsprecherin der Grünen. Immerhin wird der materielle Wert der unbezahlten, informellen Pflege auf rund drei Milliarden Euro geschätzt. Allerdings gibt Neos-Sozialsprecher Loacker zu bedenken: "Für die Zukunft müssen wir davon ausgehen, dass das Pflegepotenzial in den Familien aufgrund der Änderung der Haushalts- und Familienstrukturen abnehmen wird."

Pflegegeld verlor an Wert

ÖVP-Sozialsprecher Wöginger erinnert daran, dass die Möglichkeit zu Pflegekarenz und Pflegeteilzeit geschaffen und Angebote in dem Bereich ausgebaut wurden, er sieht für mobile Dienste aber noch mehr Bedarf. Die Forderung, dass Dienstleistungen, zum Beispiel "Essen auf Rädern" oder mobile Hauskrankenpflege, weiter ausgebaut werden sollten, hört man quer durch alle Parteien.

Ginge es nach Sozialminister Stöger, würde der Bund mit Mitteln aus der gewünschten Erbschaftssteuer die Hälfte der Kosten für mobile Dienste übernehmen. Außerdem fordert Stöger – sowie FPÖ, Grüne und dafür war auch das Team Stronach – eine jährliche Valorisierung des Pflegegeldes, das in Stufe eins derzeit bei monatlich 157,30 Euro liegt, in Stufe sieben bei 1688,90 Euro.

"Das Pflegegeld hat seit seiner Einführung im Jahr 1993 etwa 35 Prozent seines Wertes verloren", rechnet Norbert Hofer, in der FPÖ für das Thema Pflege zuständig, vor. Pflege zu Hause ermöglichen neben Angehörigen tausende 24-Stunden-Kräfte. Während die Fraktionen sich einig sind, dass das Umsorgen in den eigenen vier Wänden durch Nahestehende noch mehr gefördert gehört, ist die 24-Stunden-Betreuung, die vorrangig durch Arbeitskräfte aus der Slowakei sowie Rumänien geleistet wird, nicht unumstritten.

Die Grünen fordern mehr Qualitätssicherung und Kontrolle, unter anderem, indem die Organisation von 24-Stunden-Betreuung in ein reglementiertes Gewerbe umgewandelt wird. Die FPÖ schlägt zum Beispiel eine bundesweite Trägerorganisation in Form einer Genossenschaft vor, über die Betreuungskräfte ohne Gewinnabsicht beschäftigt werden sollten.

Klar ist: Der Pflegebereich wird mehr Geld brauchen. Die Neos verlangen nach einer Vergütung nach Leistungen, wie es im Gesundheitssystem den Ärzten zugestanden wird. Sie würden zusätzliche Mittel für die Pflege aus dem Verkauf von Anteilen an Energieversorgungsunternehmen nehmen. Die FPÖ sähe den Gesundheits- und den Pflegebereich gerne zusammengeführt. Das – allerdings nicht mehr zur Wahl antretende – Team Stronach hätte die Lösung in einer aus der Verschlankung der Sozialversicherungen finanzierten Pflegeversicherung gesehen. Grüne sowie SPÖ würden – wie erwähnt – Mittel aus einer Erbschaftssteuer heranziehen. Neben der Verschlankung des gesamten Systems sähe Wöginger von der ÖVP Einsparungspotenzial durch die Bekämpfung von Missbrauch der Mindestsicherung.

Druck auf Pflegekräfte ist hoch

Recht einig scheinen sich die Parteien auch darin zu sein, dass Pflegeberufe attraktiver werden müssen, da es an Arbeitskräften mangelt. "Der Druck auf die Pflegekräfte ist sehr hoch", betonte Waltraud Dietrich, Sozialsprecherin des Team Stronach. "Es gibt zu wenig Beschäftigte in der Pflege, die Zeit für die Betreuung der Pflegebedürftigen ist zu knapp bemessen, insgesamt wird den Pflegekräften körperlich, aber auch psychisch oft zu viel abverlangt."

Pflegewissenschafterin Mayer, die sich derzeit in einem Projekt mit der Prävention von Bettlägerigkeit befasst, sähe in einem System mit niederschwellig zugänglichen Pflegezentren auch die Möglichkeit, "Nachbarschaftshilfe gezielter zu organisieren und auch noch mehr Pensionisten mit einzubinden. Das Potenzial der jüngeren Älteren, die sich gerne engagieren und sich so vielleicht auch noch ein kleines Entgelt dazuverdienen könnten, könnte hier ausgeschöpft werden, ohne rein auf ehrenamtliches Engagement setzten zu müssen."

Mayer will nicht alles schwarzmalen: "Zwar wird die Gesellschaft älter, aber sie wird nicht im gleichen Ausmaß pflegebedürftiger", sagt sie. "Jedoch sind hochbetagte Menschen dann in einem wesentlich höheren Ausmaß pflegebedürftig." Hier seien nicht nur die Pflegenden gefordert, sondern das Gesundheitssystem an sich. Mayer hält ein solidarisches Pflegesystem für wichtig. "Pflege darf nicht zur persönlichen Angelegenheit und nicht zum Spielball der Politik werden – egal welcher Couleur." (Gudrun Springer, CURE, 27.9.2017)

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