Bild nicht mehr verfügbar.

Porträt eines Meisterprosaisten: Eduard Graf von Keyserling, 1900 repräsentativ in Öl übertragen von Lovis Corinth.

Foto: akg-images/picturedesk.com

Ein kurländischer Graf, syphilitisch erblindet, bewegt sich nur noch tastend durch München. Er ist Dichter. Ein Diener stützt den leichenblassen Mann auf dessen Ausgängen. Draußen, in den Schützengräben in Flandern, schreibt man das dritte oder vierte Kriegsjahr. Europas männliche Jugend bringt sich mit Mörsern und mit Giftgas gegenseitig um.

Als Eduard von Keyserlings kleiner Roman "Fürstinnen" 1917 erscheint, ist kein größerer Kontrast denkbar. Das alte Europa erlischt unter lautem, infernalischem Getöse. Keyserling aber vertieft sich in die nachrangigen Lebensfragen des kurländischen Adels. Er tut dies als der fähigste Prosakünstler seit Theodor Fontane. Seine Feder gebietet über beliebig viele Nuancen.

Keyserling ist der Chronist der Dekadenz: kein Anwalt, eher der umsichtige Pflichtverteidiger einer Gesellschaft, die kraft ihrer Untätigkeit zum Verblühen gezwungen ist. Gewalt, oder auch nur die Androhung gröberer Veränderungen, ist auf diesen endlos weiten Gütern, mit ihren Gesellschaftsdamen auf sauberen Kieswegen, völlig verpönt.

Natur als eigentlicher Protagonist

Der Abglanz eines möglichen Aufruhrs liegt einzig auf den Zügen der Aristokratentöchter. Drei Mädchen nennt die verwitwete Fürstin von Neustatt-Birkenstein ihr Eigen. Die beiden Älteren werden in die Obhut liebloser, aber standesgemäßer Ehegatten abkommandiert.

Nur über Marie, dem kränklichen Nesthäkchen, webt die Unruhe der anbrechenden Pubertät. Mit dem Nachbarsbuben – einem nachmaligen Kadetten voller Flausen – tauscht sie erste Zärtlichkeiten. Die eigentlichen Protagonisten des Grafen Keyserling scheinen aber die unveränderlichen Rechenposten der Natur: eine indezente Wolke hier, ein zuverlässig Schutz vor zudringlichen Blicken gewährender Strauch dort.

So ist es kein Wunder, dass die alleinstehende Fürstin, hoch zu Ross, die ihr verbliebenen Freuden ausdrücklich der Natur zu verdanken meint. "Ach Graf", jauchzt die Erhitzte, "ist dieser Morgen nicht wundervoll? Diese Luft und dieses Licht machen einen betrunken."

Aufforderung zum Tod

In solch törichtem Bekenntnis liegt nicht die geringste Outrage. Eigentlich sollte der benachbarte Graf Streith der Witwe gegenüber seine Liebe einbekennen. Doch der Hofmarschall in Ruhe zögert. Unfähig, sich auf seinen Gütern so einzurichten, dass er keinen Lebensüberdruss verspürt, verschaut sich der alternde Hagestolz. Ausgerechnet der beinahe noch halbwüchsigen Tochter einer Ex-Lebedame macht er, unwillig fast, seine Aufwartung. Hierauf hält er um ihre Hand an.

Ein verunglücktes Tanzvergnügen im Waldhäuschen der Schwiegermutter folgt. Hierauf stirbt der Graf Streith, überstürzt, mutmaßlich an Gicht, und man teilt als Leser das Erstaunen mit dem Todgeweihten. Nacherzählungen vermögen nichts über das Ingenium des Grafen Keyserling. Seine Prosa schillert in den zarten Farben des Jugendstils. Impressionistisch hat man sie genannt. Es sei schwer, seufzt ein Baron mit Blick auf die jungen Aristokratinnen, die sich auf dem Land zu Tode langweilen, "Kamelien in Spargelbeeten zu ziehen". Aber welche betörende Vielfalt an Wasserfarbtupfern, an Valeurs, wird diesen dislozierten Kamelien zuteil.

Bedrohte Langeweile

Eduard Graf von Keyserling (1855–1918) schrieb einst "süße, bittere, marktfremde, adelige Kunst", wie Lion Feuchtwanger bewundernd vermerkte. Ein kolportiertes Spottwort lautet: "Als Gottes Atem leiser ging, schuf er den Grafen Keyserling!"

Gegen die artistische Hochleistungsprosa des jungen Thomas Mann mag sich die Schreibkunst dieses Frauenverstehers geradezu verhuscht ausnehmen. Und doch: Es will einem schier das Herz brechen, wenn Keyserling die unnützen Damen der höchsten Gesellschaft und ihre kaum tüchtigeren Trabanten an seine eingefallene Brust drückt.

Nichts scheint bedrohlicher als eine Veränderung, die noch die lieb gewordene Langeweile aufs Spiel setzt. Denn sonst ertappt man sich dabei, beim Wiederfinden der Dinge unangenehm überrascht zu werden: Es ist "alles noch da, aber ich weiß nicht, es ist kleiner und verblasster." (Ronald Pohl, 16.8.2017)