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Peter Agre wurde 2003 mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet – für eine Zufallsentdeckung.

Foto: EPA/Alejandro Ernesto

Lindau/Wien – Bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts nahmen Forscher an, dass die Zellen des Körpers spezielle Transportkanäle für Wasser besitzen. Bis das Membranprotein schließlich entdeckt wurde, das dafür zuständig ist, dauerte es aber noch bis Ende der 1980er Jahre. Der US-amerikanische Mediziner und Molekularbiologe Peter Agre wurde 2008 für diese Entdeckung mit dem Chemie-Nobelpreis ausgezeichnet.

STANDARD: Welche Verantwortung haben Wissenschafter in der postfaktischen Gesellschaft?

Agre: Wissenschafter haben eine sehr große Verantwortung, indem sie mitteilen, was sie über die Wirklichkeit wissen. Es gilt, die Wahrheit zu den politischen Kräften zu sprechen, auch wenn diese sie nicht hören wollen. Die Konservativen sagen, der Klimawandel sei eine Lüge. Sie wollen nichts anderes hören. Doch es ist unsere Verpflichtung als Wissenschafter, mitzuteilen, was wir wissen.

STANDARD: Doch viele Menschen sind skeptisch gegenüber der Wissenschaft – warum ist das so?

Agre: Die Menschen mögen zwar den Wissenschaftern oftmals nicht glauben, aber sie zögern nicht, wissenschaftliche Errungenschaften zu nutzen: Smartphones zum Beispiel basieren auf mehreren physikalischen Entdeckungen.

STANDARD: Dennoch sind viele nicht daran interessiert, herauszufinden, wie Smartphones funktionieren.

Agre: Vielleicht hat das mit Faulheit zu tun. Vielleicht aber auch mit wissenschaftlichen Vorbildern. In den 1950er Jahren gab es Gesichter individueller Wissenschafter: die Physiker, die die Atombombe gebaut haben, oder Albert Einstein. Es gab eine Verbindung mit der realen Person. Ich glaube, die Öffentlichkeit heute hat keine wissenschaftlichen Helden. Ich würde wetten, dass die Mehrheit der Amerikaner nicht den Namen eines lebenden Wissenschafters nennen kann. Das ist teilweise auch die Schuld von uns Wissenschaftern. Wir könnten das besser machen, indem wir präsenter sind und unsere Forschung der Öffentlichkeit kommunizieren. Wir Wissenschafter sind immer so ernst. Wir wollen, dass die Menschen denken, dass wir so intelligent sind. Offen gesagt: Ich denke, dass der Großteil der Forschung an die Durchschnittsbevölkerung kommuniziert werden kann.

STANDARD: Wie hat sich Ihre Rolle als Wissenschafter in der Öffentlichkeit durch den Nobelpreis verändert?

Agre: Sie hat sich in vielerlei Hinsicht verändert. Eines vorweg: Unser Familienhund mag mich immer noch genauso gerne wie vor dem Nobelpreis, und wenn ich Glück habe, liebt mich meine Familie immer noch. Durch den Nobelpreis habe ich zigtausende neue Freunde und die Aufmerksamkeit der Medien ist enorm. Teilweise ist das ein Vorteil, der Nachteil ist eine Abnahme der Privatsphäre. Wenn man den Nobelpreis bekommen hat, muss man sich entscheiden, was man tun will, wenn man nicht als Fußnote in der Geschichte der Wissenschaft vergessen werden will. Viele entscheiden sich dafür, das fortzusetzen, was sie begonnen haben. Andere kommen auf andere Ideen, was sie tun wollen. Ich habe mich entschlossen, einen neuen Weg einzuschlagen und über Malaria zu arbeiten, und habe einen Job in einem Malaria-Forschungsinstitut angenommen, den ich sonst ohne den Nobelpreis wohl nicht bekommen hätte. Ich wollte mich in der globalen Gesundheit engagieren. Das ist weniger wissenschaftlicher Glamour, hat aber mehr praktischen Nutzen.

STANDARD: Sie haben 2003 den Chemie-Nobelpreis für die Entdeckung von Wasserkanälen in Zellen erhalten. Wie kam es dazu?

Agre: Wie viele wissenschaftliche Entdeckungen war sie nicht geplant. Ich habe zu dieser Zeit weiße Blutzellen studiert. Die Forschung, die zur Entdeckung der Wasserkanäle führte, haben wir nur nebenbei betrieben, wir hatten keine eigenen Forschungsgelder dafür. Daher hat die Forschung einige Jahre in Anspruch genommen. Schließlich fanden wir heraus, dass wir damit alles mögliche synthetisieren können. Ich hatte das Glück, zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zu sein. Früher oder später hätte jemand anderer das entdeckt – daran gibt es keinen Zweifel. Durch Glück und Zufall waren wir die ersten.

STANDARD: Warum hat es so lange gedauert, bis Sie das Membranprotein Aquaporin, das für den Wassertransport zuständig ist, schließlich Ende der 1980er entdeckt haben?

Agre: Das ist eine gute Frage. Mache Probleme kann man methodologisch lösen. Aber wie identifiziert man den Träger für Wasser? Alle unsere Zellen bestehen großteils aus Wasser. Wenn wir in einer Badewanne liegen, absorbieren wir kein Wasser. Unsere Zehen werden zwar ein bisschen runzelig, aber wir absorbieren kein Wasser. Wenn man aber in der Badewanne ertrinkt, füllt sich die Lunge mit Wasser – das ist ein großer Unterschied. Ich glaube nicht, dass es einen Weg gibt, das methodisch herauszufinden. Viele Leute haben die Wasserkanäle untersucht. Wir hatten Glück. Es gibt so viele andere Probleme da draußen, die nur darauf warten, dass irgendjemand Forschungsgelder und ein bisschen Zeit hat und eine Antwort darauf findet. Wenn das Problem erst einmal gelöst ist, dann scheint die Antwort ganz offensichtlich. Aber bis dahin ist sie es nicht. Wir müssen in viele junge Wissenschafter investieren: Einige werden Glück haben, andere nicht – die meisten nicht. Man kann nicht damit rechnen, dass das Glück zuschlägt.

STANDARD: Was ist mit denen, die kein Glück haben – wie stehen Sie zu Fehlern in der Wissenschaft?

Agre: Viele Leute wollen perfekt sein und niemals scheitern. Und andere – ich bin einer von ihnen – machen Rückschläge und lernen daraus. Es wäre wichtig, dass die Menschen mehr zum Fehlermachen ermutigt werden. Aus Fehlern zu lernen, gehört zu den wichtigsten Dingen. Man lernt nichts aus den Erfolgen.

STANDARD: Wie würden Sie die aktuelle Relevanz Ihrer Entdeckung der Wasserkanäle beschreiben?

Agre: Unsere Forschung hat eine langanhaltende Frage beantwortet. Wenn man erst einmal einen Wasserkanal gefunden hat, kann man weitere identifizieren. Die Wasserkanäle in unserem Gehirn und in unseren Darmzellen sind nicht dieselben, sie sind aber ähnlich, sie sind evolutionär aus demselben Stoff entstanden. Ich denke, es ist nun Teil des großen Lexikons der Wissenschaft, es ist nicht mehr oder weniger bedeutend als andere Entdeckungen. Möglicherweise wird Aquaporin sogar etwas überschätzt – es hat so lange gedauert, bis es entdeckt worden ist, also denken die Leute, es muss wirklich wichtig sein. (19.8.2017, Tanja Traxler)