Seattle/Wien – Es war ein flinker kleiner Räuber, dessen Skelett ein Team von US-amerikanischen und britischen Forschern da im Herzen der Türkei ausgegraben hat. Er wog drei bis vier Kilogramm, ähnelte in Größe und Körperbau einer Hauskatze, dürfte ein guter Kletterer gewesen sein und hatte ein Gebiss mit kräftigen Vormahlzähnen: stark genug, um Knochen oder Panzer von Kleintieren zu knacken.

Mit anderen Worten: Es war ein Fleischfresser, wie es dutzende andere gibt und gab – ob heute oder zu Lebzeiten des Tiers vor 44 bis 43 Millionen Jahren. Ein Umstand aber macht die im Fachmagazin "Plos One" vorgestellte Spezies, die den Namen Anatoliadelphys maasae erhielt, zu etwas Besonderem. Es war nämlich ein Beuteltier oder gehörte zumindest zu den Marsupialiformes, der unmittelbaren Verwandtschaft der heutigen Beuteltiere.

Anatoliadelphys lebte auf einer Insel und hatte die Größe einer Katze oder, nach Beuteltiermaßstäben, eines Riesenbeutelmarders.
Illustration: Peter Schouten

Das klingt etwas paradox, wenn man sich die gegenwärtige Verteilung der Beutler ansieht. Sie konzentriert sich am anderen Ende der Welt, in Australien und Neuguinea. Dazu kommt eine Minderheit von etwa 100 Arten, die verstreut über die beiden Amerikas leben. Genau genommen war ihre heutige Hochburg Australien aber der letzte Kontinent, den die Beuteltiere besiedelten – sogar nach der einst noch lebensfreundlichen Antarktis. Entstanden sind sie auf der Nordhalbkugel, die ältesten Fossilienfunde aus China und Nordamerika reichen bis weit ins Dinosaurierzeitalter zurück.

Doch im Norden der Welt verschwanden sie vor spätestens 14 Millionen Jahren. Eine gängige Hypothese besagt, dass sie von der zunehmenden Vielfalt der Plazentatiere verdrängt wurden, deren gleichwertige Konkurrenten sie ursprünglich gewesen waren. Forscher vermuten, dass die Plazentatiere durch ihr im Schnitt größeres und komplexeres Gehirn fast zwangsläufig zur dominierenden Säugetiergruppe aufstiegen. Diese These ist jedoch umstritten – immerhin scheint sich in Australien, wo es auch einmal einheimische Plazentatiere gab, der umgekehrte Prozess abgespielt zu haben.

Fossilienfunde weisen darauf hin, dass die letzten nördlichen Beuteltiere schon lange vor ihrem Verschwinden ein Schattendasein neben ihren beutellosen Cousins führten. Unter den verbliebenen Winzlingen sticht Anatoliadelphys nun deutlich hervor: Er war der größte Beutler aus der frühen Erdneuzeit, den man je auf der Nordhalbkugel gefunden hat.

Im Schutz der Isolation

Den Grund dafür macht das Paläontologenteam um Murat Maga von der University of Washington in der Geologie aus. Die Region um die Fundstätte Uzunçarsidere in Anatolien dürfte zu Zeiten von Anatoliadelphys eine Insel gewesen sein. Und auf Inseln gelten grundsätzlich andere Regeln: Große Tiere können verzwergen und kleine Riesenwuchs erlangen, Vögel das Fliegen aufgeben und anderswo verdrängte Arten ein letztes Rückzugsgebiet finden. All das hängt nur von dem Zufallsmix ab, welche Spezies die isolierte Landmasse erreicht haben und die dortigen ökologischen Nischen unter sich aufteilen.

Räuberische Plazentatiere in der Größe von Anatoliadelphys gab es vor 43 Millionen Jahren in Eurasien und Afrika zuhauf, in Uzunçarsidere konnten bislang aber keine ausgegraben werden. Maga wertet dies als Indiz dafür, dass die These von der Übermacht der Plazentatiere doch stimmt: Nur dort, wo es keine gab, konnten sich die Beuteltiere ihre Nischen bewahren – wenn auch nur für eine letzte Galgenfrist. (Jürgen Doppler, 17.8.2017)