Das Aroma der Stadt: Mit einem handlichen Gerät werden Duftmoleküle eingesammelt und später im Labor analysiert.

Foto: Sissel Tolaas

Scheulose Neugier: Sissel Tolaas und ihre Nase auf Feldforschung.

Foto: Sissel Tolaas

Fisch, Sand, Asphalt, Blüten, Lebensmittel, Körperschweiß. Exakt 6730 Düfte, ordentlich gelabelt und in kleinen Fläschchen aufbewahrt, umfasst das Labor von Sissel Tolaas, in einem Zimmer ihrer Altbauwohnung in Berlin-Wilmersdorf. Tolaas, 1965 in Norwegen geboren, ist ein weltumreisender Wirbelwind und ein Synapsen-Schwergewicht: Sie studierte Chemie, Mathematik, Linguistik und Kunst in Oslo, Warschau, Moskau, St. Petersburg und Oxford. Ihre Spürnase führt sie im aromatischen Schnittbereich von Forschung und Kunst um den Globus, von Seoul nach Melbourne, von Istanbul über Houston nach Wien. Ein Gespräch mit ihr läuft in Hochgeschwindigkeit ab: einatmen, ausatmen, und los.

STANDARD: Was hat Sie auf die Spur der Düfte gebracht?

Tolaas: Als ich 1990 damit angefangen habe, hat das niemanden interessiert. Die Leute sagten zu mir: Gerüche? Du spinnst ja! Was mich daran faszinierte? Die Frage, ob man Gerüche systematisch lernen kann wie eine Sprache, wie sie als Informationsträger dienen können, und vieles mehr. Und es ging mir darum, Vorurteile abzubauen.

STANDARD: Ihre eigenen Vorurteile?

Tolaas: Nicht nur. Wir haben alle unsere Vorurteile gegenüber Gerüchen, wenn sie mit unangenehmen Erlebnissen verknüpft sind. Solche Ersteindrücke vergisst das Gehirn nie. Aber Gerüche sind nicht per se gut oder schlecht. Also versuchte ich, mich ihnen nicht emotional, sondern rational zu nähern. Ich machte mich selbst zum Versuchskaninchen. Sollte das erfolgreich sein, so sagte ich mir damals, würde ich von da an mein Leben meiner Nase widmen. Nach sieben Jahren Feldforschung wusste ich: Das ist es.

STANDARD: Schon bald darauf haben Sie begonnen, den Duft der Stadt zu erforschen.

Tolaas: Von 2002 bis 2004 habe ich für das Projekt SmellScape Berlin verschiedene Bezirke der deutschen Hauptstadt analysiert. Damals war Berlin noch um einiges vielfältiger als jetzt, es gab viele unentdeckte Welten. Reinickendorf zum Beispiel, ein grauer Bezirk im Nordwesten. Niemand fuhr extra da hin. Auch ich war nie dort gewesen, aber ich zwang mich, meine Komfortzone zu verlassen.

STANDARD: Welche speziellen lokalen Geruchswelten haben Sie in Berlin entdeckt?

Tolaas: Das Märkische Viertel war sehr faszinierend. Eine riesige Hochhaussiedlung aus den 1970er-Jahren. Mittendrin: ein gigantisches Solarium. Die Leute machen da richtig Urlaub! Der Geruch dieses Solariums war wirklich unglaublich, er dominierte alles. Ein anderes Extrem war Neukölln, damals noch wirklich Klein-Istanbul. Dort roch es nach Kebab und Waschmittel. Überwältigende Erfahrungen für die Nase!

STANDARD: Wie groß sind diese Geruchswelten? Unterscheiden sie sich nach Straßen, Blocks oder Vierteln?

Tolaas: Es mag allgemeine Gerüche einer ganzen Stadt geben, aber die interessieren mich weniger. Ich erkunde die Mikrowelten. Ich gehe aufmerksam herum und benutze meine Nase, um die Geruchsquellen zu identifizieren. Wichtig dabei ist, jene zu identifizieren, die permanent sind. Zu diesen Fundorten kehre ich mehrmals am Tag zurück, oft auch mehrmals im Jahr. Bei manchen Städten dauert die Forschung mehrere Jahre.

STANDARD: Sie haben bis jetzt den Geruch von 52 Städten erforscht. Gab es darunter welche, die Sie völlig überrascht haben?

Tolaas: Amman in Jordanien war faszinierend, und die Vielfältigkeit und Komplexität von Mexico City hat mich völlig überwältigt. In Wien habe ich mit der Universität für angewandte Kunst einen Geruchsspaziergang in Ottakring gemacht und erforscht, wie dort die Schokoladenfabrik und die Brauerei olfaktorisch konkurrieren. Es war interessant zu sehen, wie die Leute reagiert haben, wenn sie mit der Nase ihr Grätzel identifizieren sollten. Die Wiener sind gute Riecher!

STANDARD: Wäre es möglich, den Geruch vergangener Städte wiederzubeleben, etwa den des antiken Rom?

Tolaas: Klar! Man sollte es zu- mindest versuchen. Wir wissen zum Beispiel, dass es in Pompeji neben den Luxusvillen Werkstätten gab, die sehr geruchsintensiv waren. Ich erarbeite gerade ein historisches Geruchsarchiv für die Königlichen Paläste in England, und diesen Sommer forsche ich in Australien über die Gerüche von Siedlungen der Aborigines, die 50.000 Jahre zurückliegen.

STANDARD: 2014 haben Sie für das Militärhistorische Museum Dresden den Geruch des Ersten Weltkriegs aufleben lassen. Wie kann man Gerüche rekonstruieren?

Tolaas: Ich konnte niemanden mehr fragen, denn alle Beteiligten sind tot. Es gibt aber Augenzeugenberichte. Einer davon war von einem Chemiker verfasst, das war hilfreich. Es war ein großes Projekt für ein staatliches Museum, also kam eine Delegation der Bundesregierung zu mir ins Labor, um die Gerüche zu testen. Sie waren entsetzt und sagten: Frau Tolaas, das ist ja abstoßend! Ich antwortete: Der Krieg war abstoßend. Ein Schlachtfeld ist kein Rosengarten. Der Geruch ist heute eine Dauerinstallation und ruft immer noch extreme Reaktionen hervor. Meine Mission war erfüllt.

STANDARD: Wie man nicht erst seit Marcel Proust weiß, ist kein menschlicher Sinn so eng mit Erinnerungen und Emotionen verknüpft wie der Geruchssinn.

Tolaas: Dass der Geruch unser Unterbewusstsein äußerst effizient beeinflusst, steht außer Frage. Das visuelle Gedächtnis ist nach drei Monaten nur noch zu 30 % abrufbar. Aber Geruchserinnerungen bleiben ein Jahr lang zu 100 % erhalten! Es ist eine Schande, dass wir dieses Potenzial nicht besser nutzen.

STANDARD: Sie haben gemeinsam mit dem Wiener Labor SuperSense ein Smell Memory Kit (SMK) entwickelt. Wie funktioniert das?

Tolaas: Wir leben heute in einer Welt der Smartphone-Fotos. Wir denken nicht mehr darüber nach, an was wir uns eigentlich erinnern wollen. Das SMK bringt diesen Aspekt des Nachdenkens wieder zurück. Wenn man einen Moment für immer erinnern will, gibt man ihm einen Code aus meiner Datenbank mit 1500 abstrakten Gerüchen, die noch nie jemals gerochen wurden. Meine Tochter nimmt es heute auf ihre Reisen mit und hält ihre wertvollen Erinnerungen damit fest. Wir müssen die Dominanz des Visuellen bekämpfen! Wir könnten die Welt mit allen Sinnen lesen. Nur leider leben wir heute in einer sterilen Welt mit leblosen Objekten und schützenden Oberflächen, die uns von der Umwelt trennen. Das macht uns passiv und körperlos.

STANDARD: Wie können wir das ändern?

Tolaas: Die Straßen anfassen, die Stadt riechen und schauen, was das mit uns macht! Einander riechen. So wie Neugeborene die Welt erkunden: Wir berühren den Boden, wir essen Erde. So lernen wir. Und es macht Spaß! Bei meinen Workshops haben alle ein Lächeln auf dem Gesicht, Bankmanager und Schulkinder.

STANDARD: Geruchsdesign ist heute ein Wirtschaftszweig. Automarken und Ladenketten entwickeln Duftmischungen, an denen sie erkennbar sind. Klopfen die großen Firmen bei Ihnen an?

Tolaas: Andauernd! Aber das Parfümieren interessiert mich nicht, unsere Welt ist parfümiert genug. Mir geht es um Toleranz. Die müssen wir neu lernen, indem wir unsere Sinne benutzen. Das ist der einzige Weg, um harmonischer zusammenzuleben. Und dieser Prozess beginnt mit der Nase! (Maik Novotny, 20.8.2017)