Wo sind bei euch eigentlich die Slums?, fragt ein ausländischer Besucher. Slums? Die Wienerin erschrickt ein wenig bei dieser Frage. Um dann, einigermaßen stolz, zu erwidern: Haben wir nicht. Arme Leute: ja. Aber Slums? Nein.

Wenn man regelmäßig Unzensuriert liest, bekommt man den Eindruck, Österreich sei ein Land am Rande des Abgrunds. Verbrecherische Asylanten überall, unsichere Straßen, korrupte Politiker, eine unfähige Bürokratie, Chaos und Kriminalität. Ein probates Gegengift ist der Kontakt mit Ausländern, die die österreichische Hauptstadt besuchen. Gäste aus Italien beispielsweise wollen von ihren österreichischen Freunden manchmal die Wiener Müllverbrennungsanlage gezeigt bekommen. Sie haben gehört, dass es hier so etwas gibt, sogar mitten in der Stadt. Ist das wirklich wahr? Der Müll wird verbrannt und verpestet nicht die Luft? Und heizt auch noch die öffentlichen Gebäude? Römer und Neapolitaner, die zu Hause mit einem ewigen Müllproblem zu kämpfen haben, staunen.

Eine über neunzigjährige Freundin, die tapfer allein lebt, bekommt eines Nachmittags Besuch von ihrer Kassenärztin. Sie hat die Ärztin nicht gerufen, diese ist nur zufällig, bei einem andern Hausbesuch, in der Gegend und schaut vorbei, um zu sehen, wie es ihrer Patientin geht. Kein Grund zur Sorge, alles okay. Ein amerikanischer Bekannter, der davon hört, sagt: Wenn sowas bei uns geschähe, stünde es auf der ersten Seite der New York Times. Hausbesuch? Und noch dazu ohne unmittelbaren Anlass? Glückliches Österreich!

Ein warmer Sommernachmittag. Kinder im Haus. Was tun? Mit dem Auto oder auch mit der Straßenbahn an den Stadtrand fahren, ein Stückchen gehen, Picknick auf der Wiese. Rundherum unberührte Natur, kein Mensch weit und breit, ein Bächlein fließt vorbei. Kostet fast nichts. Welche andere Großstadt hat so etwas zu bieten?

Man kann sich schon die Postings auf diese Kolumne vorstellen. In welcher Realität leben Sie? Noch nie von überfüllten Ambulanzen gehört, Feinstaub, kontaminierten Eiern, Budgetproblemen, Flüchtlingskrise? Ja, ja. Das gibt es alles. Aber wir haben uns ein wenig zu sehr daran gewöhnt, uns über die misslichen Dinge aufzuregen und die guten für selbstverständlich zu halten.

Aber sie sind eben nicht selbstverständlich. Es ist, wie viele Europäer und Amerikaner – von Bewohnern anderer Kontinente nicht zu reden – aus leidvoller Erfahrung wissen, nicht selbstverständlich, dass die Müllabfuhr funktioniert und die Straßen sauber sind. Dass die öffentlichen Verkehrsmittel pünktlich fahren. Dass, wenn etwas im Haus kaputt ist, binnen Stunden ein Handwerker aufzutreiben ist, der den Schaden beheben kann. Und dass man sich auf dem Land darauf verlassen kann, dass im Falle des Falles die Freiwillige Feuerwehr ausrückt und Brände löscht, vermurte Straßen freilegt und Keller auspumpt.

Die Österreicher und besonders die Wiener sind Meister im Raunzen. Manchmal täte es den Älteren von uns ganz gut, sich an die Zeiten zu erinnern, als wir alle sehr viel mehr gute Gründe zum Raunzen hatten (und es oft nicht taten). Und daran, dass in den meisten Teilen unserer Welt die Frage "Wo sind die Slums?" nicht nur rhetorischer Natur ist. (Barbara Coudenhove-Kalergi, 23.8.2017)