Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau. Sein Streit mit anderen Fraktionen innerhalb der Terrormiliz könnte Hintergrund eines fragwürdigen Dialogangebots sein.

APA / AFP / Boko Haram

Abuja/Wien – Nigerias Regierung hat im Kampf gegen Boko Haram einen weiteren Propagandaerfolg errungen. Sie präsentierte in den vergangenen Tagen einen ehemaligen führenden Kommandanten der islamistischen Terrormiliz, der eine Verhandlungslösung im seit Jahren andauernden Krieg in Aussicht stellt. Abdulkadir Abubakar, einst Geheimdienstchef der Terrorgruppe, spricht aber auch über Gräueltaten, an denen er selbst teilgenommen habe: Selbstmordanschläge von Kindern, öffentliche Vergewaltigungen und Todesstrafen durch Verhungern.

Ein weiterer kürzlich gefangener Boko-Haram-Kommandant, Auwal Ismaeela, sekundiert ihm dabei in Interviews mit lokalen Medien. Dass diese Taten "in völligem Gegensatz zu islamischen Gesetzen stehen", wollen beide wegen der Gehirnwäsche durch die Terrorgruppe erst zu spät erkannt haben. Die Frage, woher die plötzliche Reue kommt, gibt allerdings Rätsel auf.

Möglich scheint nämlich, dass Abubakar, der sich im Juni den Behörden ergeben hatte, und Auwal Ismaeela im Auftrag einer Fraktion der Terrorsekte sprechen, die mit dem bisherigen Boko-Haram-Chef Abubakar Shekau in Konflikt steht. Diesen beschuldigen die Exkommandanten nämlich fast aller Verbrechen, die Boko Haram begangen hat: Shekau habe die Selbstmordattentate auf Schulen und Märkte angeordnet, er sei für die Entführung der Schülerinnen von Chibok verantwortlich, habe Frauen und Mädchen als Sexsklavinnen gehalten, sie bewusst als Strafe verhungern lassen und das Niederbrennen bewohnter Dörfer befohlen. Andere Fraktionen der Terrormiliz hätten hingegen nur Angriffe auf Sicherheitskräfte durchführen wollen und dafür plädiert, Zivilisten zu verschonen.

Ein Geständnis mit Hintergedanken

Diese Version widerspricht dem bisherigen Wissen über die Sekte allerdings massiv. Zwar gilt Shekau – dessen Tod Nigerias Regierung schon mehrfach fälschlich gemeldet hat – als Mann, der wenige Skrupel hat. Dass er damit innerhalb von Boko Haram alleine wäre, ist aber nicht wahrscheinlich.

Bekannt war allerdings schon bisher, dass in der Terrormiliz ein Machtkampf tobt, seitdem die nigerianische Regierung mithilfe örtlicher Milizen den Großteil der Gebiete im Norden des Landes wieder eingenommen hat. Shekau, der der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) die Treue geschworen hat, steht dabei mehreren Gruppen gegenüber, die eine heimische Version des extremistischen Islam bevorzugen. Diese hätten nun der Regierung Nigerias über Abubakar und Ismaeela vor allem deshalb ein Gesprächsangebot unterbreitet, um so Shekau zu verdrängen, lautet die Vermutung.

Im Sinne der Regierung

Dafür, dass Abubakar nun im Interview ein Ende der "sinnlosen Morde" in Aussicht stellt, könnte es aber auch banalere Gründe geben: Er selbst hatte sich nach heftigen Kämpfen im Juni vor allem aus Gesundheitsgründen den Sicherheitskräften ergeben, denen er nun Abbitte schuldig ist. Auffällig ist daher, dass sowohl Abubakar als auch Ismaeela in den Interviews genau jene Dinge sagen, die Nigerias Regierung gern von früheren islamistischen Kämpfern hören würde: ein Abschwören der Gewalt und die Versicherung, dass diese nicht mit der islamischen Lehre in Einklang zu bringen sei.

Sie könnten sich daher noch als brauchbare Waffe im Propagandakrieg gegen die Sekte erweisen, die militärisch aus Sicht der nigerianischen Streitkräfte ohnehin nahezu besiegt ist, aber weiterhin ausreichend Zulauf und Kapazitäten hat, um fast täglich Selbstmordattentate mit zahlreichen Opfern zu verübenund zwar über die Landesgrenzen hinweg. Dass die Geständnisse andere davon abhalten könnten, sich Boko Haram anzuschließen, gilt als möglich. Die ungleich schwierigere Aufgabe, vor der der nigerianische Staat nun steht, nehmen sie diesem aber nicht ab: den Wiederaufbau der politischen und gesellschaftlichen Grundlagen in den vom Krieg zerstörten Gebieten. (Manuel Escher, 28.8.2017)