Joachim Bauer, der an der Universität Freiburg sowie an der International Psychoanalytic University in Berlin lehrt, rät in dieser Umbruchssituation zu einer beziehungsstarken Führung, um in der Belegschaft vorhandenen Ängsten entgegenzutreten.

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"Gerade jetzt, wo die digitale Revolution die betrieblichen Abläufe aus den Angeln hebt, zahlt sich Fingerspitzengefühl im Umgang mit der Belegschaft mehr als aus", sagt der Neurowissenschafter und Arzt Joachim Bauer, der an der Universität Freiburg sowie an der International Psychoanalytic University in Berlin lehrt. Er rät in dieser Umbruchssituation zu einer beziehungsstarken Führung, um in der Belegschaft vorhandenen Ängsten entgegenzutreten. "Mitarbeiter, die sich wertgeschätzt fühlen, leisten mehr, stehen Veränderungen offener gegenüber und identifizieren sich stärker mit ihrem Betrieb."

Permanenter Abgleich

Der zentrale Mechanismus in diesem Zusammenhang sei die Fähigkeit des Gehirns, zwischenmenschliche Erlebnisse in biochemische oder bioelektrische Signale umzusetzen. "Durch diese Umsetzung von Beziehungserfahrungen in biologische Signale übt das Gehirn Einfluss auf zahlreiche Körperfunktionen aus", erläutert Bauer. Vereinfacht ausgedrückt besagt das: Alle bedeutsamen zwischenmenschlichen Erfahrungen werden von Nervenzellnetzwerken in der Großhirnrinde (Cortex) und dem damit verbundenen limbischen System (= dem Hirnareal, wo unter anderem die Gefühle entstehen) gespeichert.

Aktuelle Situationen werden in der Großhirnrinde zu einem inneren Bild der äußeren Situation zusammengefügt und durch einen permanent stattfindenden Abgleich mit bewusst oder unbewusst gespeicherten früheren Erfahrungen bewertet. Mit dieser permanent im Hintergrund laufenden Bewertung sollen potenzielle äußere Gefahrenlagen erkannt werden. "Und als solche stuft das Gehirn nicht allein unmittelbar gefährdende Bedrohungen ein, sondern auch jeden drohenden Verlust von Kontrolle und Sicherheit im zwischenmenschlichen Bereich", sagt Bauer.

Bedrohungen und Alarmsysteme

Dieses Empfinden könne sich in angespannten betrieblichen Situationen bereits als Folge von Kommunikationsschwächen einstellen. "Wachsweiche Informationen und unklare Verlautbarungen werden als Gefahr wahrgenommen und damit als Verlust von Kontrolle und Sicherheit. Neurobiologisch richtiges Führungsverhalten bedeutet, im Rahmen des Erkenn- oder Voraussehbaren unverbrämt klarzulegen, wie sich die Lage darstellt und welche denkbaren Konsequenzen sich daraus ergeben werden oder könnten."

Bewertet das Gehirn nun eine aktuelle Situation als Bedrohung, aktiviert es sekundenschnell zwei Alarmsysteme unterhalb der Großhirnrinde in tiefer liegenden Hirnregionen. Alarmsystem eins ist der Hypothalamus. Signalisiert das Gehirn Bedrohung, werden über die Aktivierung bestimmter Gene in den Nervenzellen verschiedene Stresshormone ausgeschieden, unter anderem das Stresshormon Cortisol. Und das "wirkt einerseits als eine Art Turbo für den gesamten Stoffwechsel, hemmt andererseits aber das Immunsystem und bremst die Erholungsfähigkeit des Körpers. Bei anhaltenden Stressempfindungen kann das zu psychosomatischen Erkrankungen führen."

Alarmsystem zwei ist der Locus coeruleus im Hirnstamm, der evolutionär uralten Hirnpartie im Hinterhauptsbereich, sprich im oberen Nacken. Hier führen empfundene Bedrohungen zur Ausschüttung des Alarmbotenstoffes Noradrenalin. Ergänzend dazu wird in einer anderen Region des Hirnstammes der Nervenbotenstoff (= der Neurotransmitter) Acetylcholin ausgeschüttet. "Beide Botenstoffe versetzen den Körper blitzschnell in Erregung, Angst und Panik. Noradrenalin und Adrenalin beschleunigen den Puls und die Atmung, erhöhen den Blutdruck, können Schwindelgefühle hervorrufen und die ohnehin schon vorhandene Angst und Erregung weiter steigern. Acetylcholin führt zu gesteigerter innerer Unruhe. Es kann Funktionen des Magen-Darm-Traktes stören, Schlafstörungen verursachen und weitergehende Erkrankungen auslösen und die Leistungs- und Regenerationsfähigkeit des Körpers gravierend beeinträchtigen."

Aus der Stressbiologie lernen

Bei allen Menschen laufen diese Vorgänge in gleicher Weise ab. Ob individuell allerdings eine Situation als bedrohlich empfunden und als Folge davon die körpereigenen Alarmsysteme aktiviert werden, bestimmt zum einen die persönliche Erfahrungsgeschichte, zum anderen die aktuell zur Verfügung stehende Unterstützung durch die Kollegen und Vorgesetzen. Diese beiden Parameter dienen dem Gehirn als innerer Bewertungsmaßstab.

Welche Schlüsse sollten daraus für das betriebliche Kommunikations- und Führungshandeln gezogen werden? Bauer nennt drei dafür relevante Punkte.

Die einschlägige Forschung zeigt, biografische Vorerfahrungen, die durch verlässliche zwischenmenschliche Beziehungen und durch Erfahrungen sozialer Unterstützung geprägt sind, hinterlassen in den Nervenzellnetzwerken der Großhirnrinde und des limbischen Systems ein Muster, das die Bewältigung aktueller Herausforderungen begünstigt.

  • Bei entgegengesetzten Vorerfahrungen kann es bei auftretenden Belastungen bereits dann zu einer massiven Aktivierung der biologischen Alarmsysteme kommen, wenn Menschen mit einem positiven Erfahrungshintergrund noch keinerlei Bedrohung oder Gefahr empfinden.
  • Studien aus dem Bereich der Stressbiologie zeigen: So bedeutsam die vom Gehirn gespeicherten früheren Erfahrungen für die Bewältigung einer aktuellen Belastungssituation auch sind, eine mindestens ebenso bedeutsame Rolle kommt der gegenwärtigen sozialen Unterstützung zu, die Menschen in einer aktuellen Situation erhalten. Die Stressforschung belegt, diese Unterstützung hat in Belastungssituationen eine messbare Verminderung der Stresshormone zur Folge.

Bauer: "Neurobiologische Erkenntnisse machen deutlich, erlebte soziale Unterstützung steigert die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft. Umgekehrt beeinträchtigt die Erhöhung des Leistungsdrucks beides. Aus neurobiologischer Perspektive sind Anforderungen nur dann positiver Stress, wenn sie tatsächlich zu bewältigen sind. Die Daumenschrauben der Leistungsanforderungen ständig anzuziehen, ist im Sinn eines stabilen betrieblichen Leistungsniveaus nicht zu empfehlen. Liegen Anforderungen knapp unterhalb der Überforderungsgrenze, lösen sie blockierende antizipierende Überforderungsängste aus." (Hartmut Volk, 30.8.2017)