In Katalonien findet in den nächsten Monaten möglicherweise eine Revolution statt. Auch wenn derzeit noch unklar ist, ob der Urnengang über die Abspaltung der spanischen Region am 1. Oktober abgehalten wird oder was genau die Konsequenzen im Fall einer Ja-Mehrheit wären, im Rest Europas hört man darüber wenig Substanzielles. Das ist angesichts der Größe und der wirtschaftlichen Bedeutung der Region erstaunlich, weshalb drei Thesen eines nicht ganz unparteiischen Beobachters zur Diskussion gestellt werden.

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1. "Ja, dürfen s' denn des?" – Warum das Referendum zwar formal illegal, aber grundsätzlich legitim ist; und die geplante Umsetzung trotzdem problematisch bleibt

Dass das für den 1. Oktober von der katalanischen Regionalregierung geplante Referendum nicht in den spanischen "Verfassungsbogen" passt, dürfte allgemein anerkannt sein. Das bedeutet nicht, dass nicht in Kooperation mit der Zentralregierung eine rechtskonforme Lösung gefunden hätte werden können – nur ist dies nicht geschehen.

In der Staatengeschichte sind Zäsuren durchaus nicht unüblich, an denen positives Recht durch ein "revolutionäres Momentum" abgelöst wird. Ob man Paradigmenwechsel wie die Gründung der Ersten Republik, die amerikanische Unabhängigkeit oder die Machtergreifung der Nationalsozialisten "Putsch" oder "Revolution" nennt, hängt meist davon ab, was danach geschah – und vom eigenen Standpunkt.

Alle Fragen erlaubt

Was die gewählte katalanische Regierung vorhat, ist aber nicht einfach eine neue Republik auszurufen, sondern die Bürger dazu anzuhören. Es ist als Selbstverständlichkeit anzusehen, dass in der liberalen Demokratie im Prinzip alle Fragen erlaubt sind, die nicht mit einer direkten Einschränkung der Grundrechte von Einzelpersonen oder Gruppen einhergehen. Obwohl die geplante Abstimmung mit dem spanischen Recht nicht vereinbar ist und von manchen daher schon als "Putsch" bezeichnet wird, spricht aus moralischer Perspektive zunächst nichts dagegen. Wenn es "illegal" ist, wie die spanische Regierung betont, über grundlegende gesellschaftliche Organisationsaspekte gemeinsam zu entscheiden, ist wohl die gesetzliche Lage aus demokratietheoretischer Sicht problematisch – und nicht die zu stellende Frage "falsch". Sich nicht an ein entsprechendes Verbot zu halten ("Ungehorsam"), kann daher legitim sein.

Interessant ist, dass 70 bis 85 Prozent der Katalanen dafür sind, eine Abstimmung abzuhalten, obwohl sich in Umfragen meist nur etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung für die Unabhängigkeit ausspricht. Die Zustimmung zum einseitigen Referendum wie derzeit geplant liegt allerdings nur bei circa 50 Prozent.

Die Regeln

Die verlautbarten Regeln für den 1. Oktober lassen einen Sieg der Unabhängigkeitsbefürworter möglich erscheinen: Alle Parteien, die die angepriesene Einheit Spaniens bewahren wollen, haben zum Boykott des illegalen Wahlgangs aufgerufen. Aufgrund der fehlenden Mindestwahlbeteiligung könnte es also passieren, dass die Gegner zwar im Volk in der Mehrheit sind, aber mangels deren Beteiligung an der Abstimmung die Sezessionisten schließlich trotzdem gewinnen – auch ohne eine Zustimmung der Mehrheit der Wähler des größten Bezirks Barcelona. Ob die gezielt von den Unabhängigkeitsbefürwortern festgesetzten Rahmenbedingungen des 1. Oktober eine legitime Entscheidung ermöglichen, ist also anzuzweifeln.

Ein weiteres gravierenderes Problem ist, dass über die Angelegenheit schon 2015 in einer regulären Regionalwahl abgestimmt wurde (siehe unten). Die "independentistes" verloren damals knapp – und haben in der Zwischenzeit mit ihrer parlamentarischen Mandatsmehrheit die Spielregeln wie geschildert modifiziert, um das von ihnen gewünschte Ergebnis zwei Jahre später doch noch zu erhalten – ein Musterbeispiel für die Gefahren der direkten Demokratie.

Eine Unterstützerin der Einigkeit unter der spanischen Flagge.
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2. Der spanische Staat macht im Umgang mit dem "katalanischen Problem" gravierende Fehler

Selbst in Hochzeiten der Sezessionsbewegung gab es nie stabile Mehrheiten für einen eigenen katalanischen Staat. Sogar bei der als "endgültige Befragung" beziehungsweise "plebiszitär" titulierten Regionalwahl 2015, die ursprünglich die Funktion des nun stattfindenden Referendums erfüllen sollte, ohne mit dem spanischen Recht zu brechen, erreichten die Unabhängigkeitslisten nur 47,8 Prozent der Stimmen. Das Vorhaben, an dem einige der regierenden Sezessionisten auch Wochen nach der verlorenen "Plebiszitwahl" in den Medien festhielten, mit der "billig" erlangten parlamentarischen Mandatsmehrheit nach 18 Monaten (also im Sommer 2017) einseitig die Unabhängigkeit auszurufen, war mangels öffentlicher Unterstützung somit bereits am Wahlabend Geschichte.

Zudem bestehen intensive familiäre und wirtschaftliche Beziehungen zwischen Spanien und Katalonien. Mit sechs Millionen Passagieren jährlich gehört etwa die öffentliche Verkehrsverbindung Madrid–Barcelona–Madrid zu einer der bedeutendsten Europas. Vermutlich kein Katalane wird bestreiten, Teil des hispanischen Kulturraums zu sein, und die wenigsten sehen dies per se negativ.

"Katalanismus" wird als Spinnerei gesehen

Als Beobachter aus der Ferne drängt sich daher der Eindruck auf, dass die spanische Regierung mit besonnenem Handeln und relativ einfachen Mitteln den Konflikt ausräumen und die Unabhängigkeitsbefürworter zu einer mittelgroßen Minderheit schrumpfen hätte lassen können.

Dazu ist sie aber de facto nicht in der Lage, da in Spanien die Anliegen der Katalanen nicht verstanden oder nachvollzogen werden können – weder von Konservativen noch von Sozialisten. Der "Katalanismus" wird dort eher als exzentrische Spinnerei oder als hinter dieser Maske versteckte Geldgier gesehen, sein politisches Potenzial letztendlich unterschätzt. Das zeigt schon, mit welcher Ignoranz die spanischen Akteure die derzeitige Konfliktspirale vom Zaun gebrochen haben: 2010 klagte die spanische Volkspartei PP teilweise erfolgreich vor dem Verfassungsgericht gegen das in einer Volksabstimmung angenommene Autonomiestatut Kataloniens. Darauffolgende Versuche, Alternativmodelle zu konzipieren, sind meist an der Dialogunwilligkeit der PP-Regierung gescheitert. Um von Korruptionsskandalen auf höchster Ebene abzulenken, haben die spanischen und katalanischen Machthaber schließlich noch zusätzliches Öl ins Feuer gegossen.

Linguistische Diskriminierungsgeschichte

Die katalanischen Forderungen waren dabei nie besonders originell – ähnliche Konflikte wurden in anderen westlichen Staaten erfolgreich gelöst. Die meisten Katalanen wollen nicht ständig über ihre Muttersprache oder den Infrastrukturausbau mit einer als fremd und fern empfunden Herrschaftselite in deren Sprache diskutieren, sondern in einem "normalen Land" leben. Es fehlt einerseits an symbolischen sowie subjektiven Rechten, die zum Beispiel in Österreich selbstverständlich sind, und andererseits an einer Lösung des Steuerkonfliktes.

Katalanisch wird von circa 15 bis 20 Prozent der spanischen Staatsbürger gesprochen, ungefähr die Hälfte der Sprecher lebt in Katalonien. Es handelt sich um eine alte europäische Kultursprache – die von Spaniern ähnlich gut oder schlecht verstanden wird wie Niederländisch von Österreichern –, die mehr Sprecher aufweist als Maltesisch oder Slowenisch.

Derzeit darf beziehungsweise kann das Katalanische im Europäischen Parlament oder im Spanischen Abgeordnetenhaus nicht verwendet werden. Im Gerichtswesen, aber auch bei der Nationalpolizei CNP (Grenzschutz) und der Militärpolizei (Guardia Civil) wird die Sprache, vorsichtig gesagt, nicht gern gehört. Auf Ausweisen oder in Botschaften wird hauptsächlich das Spanische benutzt et cetera. Dies ist darauf zurückzuführen, dass zwar die Amtssprache der Region das Katalanische ist, die des Zentralstaates aber explizit nicht, was nahtlos an eine jahrhundertelange linguistische Diskriminierungsgeschichte anschließt.

Billige Einigungsmöglichkeit – über die Sprache

Das Katalanische zu einer nationalen Amtssprache zu erheben, wodurch es auch auf EU-Ebene berücksichtigt würde, wäre eine einfach umsetzbare und relativ billige Einigungsmöglichkeit gewesen, die auch in Belgien, Kanada oder der Schweiz praktiziert wird, bei den Eidgenossen sogar für die 60.000 Rätoromanen. Es sollte im demokratischen Zeitalter kein Zweifel daran bestehen, mit dem Staat als Dienstleister in der eigenen Muttersprache, die vor Ort seit Jahrhunderten verbreitet ist, kommunizieren zu dürfen. Umgekehrt könnten dieses Recht aber auch spanischsprachige Katalanen von ihrer Autonomieregierung einfordern, die in den letzten Jahren nicht besonders viel von Zweisprachigkeit gehalten hat, was man im öffentlichen Raum (Straßen- und Verkehrsschilder, U-Bahnen) deutlich merkt.

Es gäbe aber noch zahlreiche andere symbolische Rechte, auf die man sich einigen könnte, zum Beispiel eine eigene Fußballnationalmannschaft – siehe Schottland und Wales –, Regionalvertretungen im Ausland als Teil der diplomatischen Missionen wie im Fall Belgiens oder spezielle Euromünzen. Den spanischen Staat kosteten solche Eigenheiten der Katalanen nichts. Die von der Regionalregierung vor Jahren eingeführte Top-Level-Domain .cat im Internet erfreut sich großer Beliebtheit, was zeigt, wie wichtig vielen Menschen aus rationaler Sicht nebensächliche Symbole sind.

Schwieriges Thema Steuerautonomie

Ans Eingemachte geht es beim Geld: Katalonien forderte zuletzt 2011 eine weitgehende Steuerautonomie. Grund dafür ist der seit Jahren bestehende "Steuerabfluss" (déficit fiscal), das heißt der Region kommen weniger öffentliche Mittel durch Investitionen und andere staatliche Leistungen zugute, als ihre Bewohner an den Fiskus entrichten. Das ist sicherlich bei den meisten reicheren Gliedstaaten in großen Ländern ähnlich. Staatsbürger nehmen so einen Abfluss aber leichter hin, wenn ein minimales Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben ist und zumindest die wichtigsten staatlichen Dienstleistungen gut funktionieren.

Wer in Katalonien schon einmal mit den notorisch verspäteten Schnellbahnen (Rodalies) gefahren ist, die teuren Autobahnen kennt – im restlichen spanischen Staat weniger verbreitet – oder weiß, wie viele Jahrzehnte es gedauert hat, eine Hochleistungseisenbahnverbindung nach Frankreich, Madrid beziehungsweise València zu bekommen, versteht gewisse Frustrationen unter Umständen. Der weit verbreiteten Meinung, dass der spanische Staat nicht nur Steuergeld abzieht, sondern dieses dann auch suboptimal einsetzt, kann angesichts leerer Flughäfen (Castelló de la Plana und Ciudad Real) und Autobahnen in der kastilischen Hochebene – zum Beispiel die berüchtigten Radiales de Madrid – wenig entgegnet werden.

Lösungsmodelle gibt es für dieses Problem ebenfalls. Das Fiskalregime des "Concierto económico", ein spanisches Beispiel, erlaubt es den Regionen Navarra und Baskenland selbst zu bestimmen, welche Steuern wie hoch ausfallen und diese autonom einzuheben. Dem Staat wird jährlich eine Pauschalquote ("Cupo") für dessen erbrachte Dienstleistungen (Königshaus, Militär, Außenpolitik und so weiter) überwiesen. In jedem Fall, selbst mit einem abgeschwächten "Konzert", stünden Madrid aber geringere Finanzmittel zu Verfügung, was für PP und Sozialisten, die dann weniger Geld im Rest des Landes verteilen könnten, nicht erstrebenswert war beziehungsweise ist.

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Unterstützung für die Katalanen bei einer Demonstration in Bilbao.
Foto: REUTERS/Vincent West

Da die politischen und wirtschaftlichen Kosten der derzeitigen Krise – die sich noch massiv erhöhen könnten, siehe nächste These – insgesamt wesentlich höher ausfallen als die "Verluste", die sich durch eine verringerte Bautätigkeit von modernen Bahnstrecken in ländlichen Regionen Kastiliens oder Parlamentsdebatten in katalanischer Sprache ergäben, ist das Ignorieren des "katalanischen Problems" durch die spanische Regierung als gravierender Fehler einzustufen. Zumal nach 300 Jahren Widerstand der Katalanen gegen bourbonische und franquistische Zentralisierungsbestrebungen absehbar war, dass auf katalanischer Seite nicht klein beigegeben würde. Man hat sich in Madrid offenbar verrechnet und weigert sich, ganz nach dem spieltheoretischen Prinzip der Dollar-Auktion, die Eskalation einzubremsen.

Dies wird nicht zuletzt durch die Ereignisse der letzten Tage deutlich: Auf richterliche Anordnung werden von der Polizei nicht nur "offizielle" Wahlzettel in Druckereien beschlagnahmt und die Referendumswebseite abgeschaltet, sondern auch Veranstaltungen und Flyer von Parteien und Vereinen, die das Referendum thematisieren, aus inhaltlichen Gründen verboten beziehungsweise konfisziert. Berücksichtigt man vor diesem Hintergrund der massiven Einschränkung der Meinungsfreiheit, dass die spanische Regierung zur gleichen Zeit ein Denkmal für einen verbrecherischen Diktator in den Bergen um Madrid finanziert, mit dessen Fahne jedermann ungestraft durch die Straßen ziehen darf, wird nachvollziehbar, warum viele Katalanen, aber auch Spanier, nicht besonders viel von ihrem Staat halten.

3. Europa interessiert sich für das "katalanische Problem" nicht – das kann gutgehen, muss es aber nicht

In Europa scheint das Interesse für den Konflikt im Süden enden wollend zu sein. Brexit, Flüchtlinge, Terrorismus dominieren die Agenda. Die Strategie, die Vorkommnisse als innerspanische Angelegenheit zu betrachten, ist nachvollziehbar – und sie könnte gutgehen.

Das Restrisiko einer Entwicklung Kataloniens in Richtung eines iberischen Kosovo oder einer unter langfristige Kuratel gestellten Sieben-Millionen-Provinz ist aber nicht zu unterschätzen. Es bleibt offen, ob die verbreitete Beurteilung richtig ist, dass die früher kompromissbereiten katalanischen Liberalen, die den Präsidenten stellen, nur den Preis für Zugeständnisse aus Madrid nach unten "relativieren" wollen. Andererseits spricht einiges – unter anderem die Persönlichkeit des Präsidenten selbst – dafür, dass deren "Teilradikalisierung" der vergangenen Jahre ernst zu nehmen ist. An der ideologischen Authentizität und Entschlussbereitschaft ihrer linksrepublikanischen (ERC) und linksanarchistisch-nationalistischen (CUP) Koalitionspartner sowie, mit umgekehrten Vorzeichen, der spanischen PP-Regierung sind zudem fast nie Zweifel aufgekommen.

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Regionalpräsident Carles Puigdemont mit einem Unabhängigkeitsbefürworter. Auf der Flagge steht: "1. Oktober, der wichtigste Tag in unserer Geschichte".
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Fatale Folgen

Die Folgen einer einseitigen Abspaltung – die, betrachtet man die nicht gerade zimperliche Vorgehensweise der spanischen Regierung, ohne Gewaltausübung unmöglich scheint – wären unberechenbar und vermutlich fatal. Dem spanischen Staat (und der EU) kämen nicht nur 7,4 Millionen (seiner 46,4 Millionen) Steuerzahler abhanden. Aufgrund der überproportionalen Wirtschaftsleistung der Region (BIP/Kopf in EUR in Kaufkraftparität 2015, CAT: 30.900, ES: 25.900, EU-28: 28.900) würde dem krisengeschüttelten Rumpfkönigreich plötzlich viel Geld fehlen. Zunächst die bereits angedeuteten zehn bis 15 Milliarden Euro (drei bis fünf Prozent des Staatsbudgets), die derzeit jährlich aus Katalonien "abfließen". Weiters könnte Spanien auf den gesamten Staatsschulden von circa 100 Prozent des BIPs (EU-28: 83,5 Prozent) des 46-Millionen-Staates sitzen bleiben – mit nur noch 39 Millionen Zahlern und daher wesentlich geringeren Einnahmen. Immerhin tragen die Katalanen derzeit (unabhängig vom "Abfluss") stark zum spanischen Steueraufkommen bei. 2015 wurden 19 Prozent des spanischen BIPs (zu Marktpreisen) in der "autonomen Gemeinschaft" erwirtschaftet. Die Vorstellung, dass ein Euromitglied der Größe Spaniens Zahlungsprobleme bekommen könnte, lässt die Griechenland-Krise als geschichtliche Randnotiz erscheinen.

Die Bereitschaft der Katalanen, im Fall des Falles dieses politische und ökonomische "Doomsday Device" zu zünden, mag niedrig sein. Im Moment dient dieses eher als Druckmittel, um Spanien und Europa zu einer Einigung zu bewegen. Dass sich "radikale" Politiker mit der Bereitschaft, wirtschaftliche Verluste für die lang ersehnte Unabhängigkeit in Kauf zu nehmen, nach einem gewonnenen 1. Oktober durchsetzen, ist aber nicht unmöglich.

Die Bereitschaft der Regierung in Madrid, die katalanische Autonomie zu suspendieren, ist dagegen laut eigenen Aussagen gegeben. Sieben Millionen Menschen unter der Vormundschaft einer 500 Kilometer entfernten Regierung beziehungsweise ihrer Statthalter zu stellen, ohne dass aktiver oder passiver Widerstand aufkommt, ist aber im heutigen Europa unvorstellbar. Kein langfristiges Szenario, das so einer politischen Entrechtung folgen könnte, mit Ausnahme eines verhandelten Kompromisses beider Seiten, hätte einen positiven Ausgang.

Katz-und-Maus-Spiel

Europa müsste folglich daran interessiert sein, Spanien, in welcher Form auch immer, stabil und Katalonien als de facto Nettozahler in der Union zu halten. Warum nicht auch öffentlich Druck und Einfluss auf die Zentralregierung, die die primäre Ansprechpartnerin für das Ausland ist, ausgeübt wurde, ist unverständlich. Als es um die fiskalischen "Hausaufgaben" ging, war man im Norden bei weitem nicht so zimperlich mit guten Ratschlägen.

Solche Gedankenspiele könnten sich schnell erübrigen, wenn ein politischer Kompromiss gefunden würde – unabhängig davon, ob das vom Verfassungsgericht verbotene Referendum stattfindet oder nicht. Derzeit findet noch ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen spanischer und katalanischer Regierung statt. Letztere bemüht sich, die rechtswidrigen und durch Gefängnisstrafen bedrohten Vorbereitungen (Delikte: Veruntreuung, Ungehorsam, Amtsmissbrauch) möglichst kurzfristig durchzuführen, um ein wirksames Unterbinden durch die spanische Polizei zu verhindern. Es wirkt im Moment aber so, dass es auf eine (Teil-)"Privatisierung" des Referendums hinausläuft, was dazu führen könnte, dass nicht alle Katalanen die Gelegenheit zur Abstimmung haben werden.

"Das Match des Jahres" steht auf dem Plakat, das Mariano Rajoy und Carles Puigdemont als Boxer zeigt. Gesehen in Barcelona.
Foto: APA/AFP/JOSEP LAGO

Fest steht aber, dass Madrid durch bisherige Störaktionen und Barcelona durch intransparente Vorarbeiten eine Abstimmung am 1. Oktober unmöglich gemacht haben, der in Europa zumindest Respekt gezollt würde. Es geht für beide Seiten nur (noch?) darum zu zeigen, wer der Stärkere ist und sich durchsetzt.

Den Verantwortlichen in Kastilien – die seit 300 Jahren auf dem längeren Ast sitzen – wäre die Lektüre der "Oda a Espanya" angeraten gewesen, zumindest der letzten Strophe.

"Wo bist du, Spanien? Ich sehe dich nirgends. Hörst du nicht meine Donnerstimme? Verstehst du diese Sprache nicht, die in Gefahren sich an dich wendet? Hast du verlernt, die eigenen Kinder zu verstehen? Adéu, Espanya!"

Der katalanische Dichter Joan Maragall deutete schon vor 100 Jahren als Reaktion auf zwei desaströse Kolonialkriege nicht besonders subtil an, dass das "Problem" mit der Region im Nordosten nicht unmöglich zu verstehen ist. (Franz Trautinger, 20.9.2017)