Schulmeister hält die im Wahlkampf versprochenen Steuersenkungen für fatal: "Das ist eine systematische Umverteilung zulasten des unteren Drittels der Gesellschaft."

Regine Hendrich

STANDARD: Als Ökonom versuchen Sie seit 35 Jahren, wirtschaftspolitische Fehlentwicklungen aufzeigen. Hat's etwas genutzt?

Schulmeister: Eher wenig, zumal meine Grunddiagnose ja lautet, dass die Politik seit Anfang der 70er-Jahre nach einer falschen Navigationskarte steuert.

STANDARD: Inwiefern?

Schulmeister: Begonnen hat es mit der Liberalisierung der Finanzmärkte. Seither schwanken Rohstoffpreise, Aktienkurse und Wechselkurse massiv, was Investitionen in die Realwirtschaft enorm erschwert. Verständlicherweise haben sich viele Unternehmer auf Finanzspekulationen verlegt, weil sie dank der Kursschwankungen attraktiv sind. Das allein bremst bereits die Wirtschaft und lässt die Arbeitslosigkeit steigen. Wenn dann auch noch der Staat mit Sparprogrammen die Nachfrage einschränkt, führt das ein System immer tiefer in den Abgrund. Europa hat seit zehn Jahren kein nennenswertes Wachstum mehr erreicht. Der Kontinent steckt in einer historisch einzigartigen Krise – und da setzen die Rechtspopulisten an, indem sie die soziale Wärme der Volksgemeinschaft versprechen.

STANDARD: Erholt sich Europa nicht langsam vom Absturz von 2008?

Schulmeister: Das ist nicht nachhaltig. Das Besondere an der Situation ist ja: Während die Börsenkrachs von 1873 und 1929 Keulenschlagkrisen waren, steckt Europa seit 1971 in einer Strangulierungskrise. Es wird langsam immer enger, das gibt der Entwicklung den Anschein eines Sachzwangs. Wären Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigung innerhalb von drei Jahren so stark gestiegen wie in den letzten 40 Jahren, wäre die Hölle los. Läuft das aber gestreckt ab, beginnen sich die Menschen anzupassen. Sie gewöhnen sich ans Durchwurschteln, sind allmählich mit einem Praktikum nach dem Studium zufrieden, wo es früher ein Vollzeitjob sein musste. So erreicht die neoliberale Ideologie einen Sieg in den Köpfen ihrer Opfer.

STANDARD: Ein Neoliberaler würde einwenden: Das matte Wachstum liege daran, dass der Staat schlecht wirtschafte, Schulden anhäufe, kein Investitionsklima schaffe.

Schulmeister: Empirisch zeigt sich das Gegenteil. Die Unternehmer haben ihre Investitionen gerade in jenen Ländern zurückgefahren, in denen die Staaten massiv gespart haben – siehe Südeuropa. Verzichtet die öffentliche Hand auf Investitionen, brechen den Unternehmen Aufträge weg.

STANDARD: Passt Österreich denn auch in dieses Bild?

Schulmeister: Österreich hat alles mit einer Verzögerung mitgemacht. Die Regierung Kreisky hat erst einmal so getan, als könne man weiter eine Vollbeschäftigungspolitik durchziehen. Das war zehn Jahre lang einigermaßen erfolgreich, musste letztlich aber scheitern. Wenn ein Land wie Österreich jedes Jahr um einen Prozentpunkt stärker wächst als der Rest Europas, führen die höheren Einkommen zu mehr Importen und immer schwächeren Exporten – die Leistungsbilanz gerät aus dem Gleichgewicht. Ab Mitte der 80er-Jahre ist auch Österreich langsam auf einen Austeritätskurs eingeschwenkt.

STANDARD: Hat es einen solchen Sparkurs denn wirklich gegeben? Österreich hat nach wie vor Schulden gemacht, der Sozialstaat ist intakt und hat die verfügbaren Einkommen trotz Krise stabil gehalten. Die Armut ist nicht angewachsen.

Schulmeister: Eine Demontage des Sozialstaats hat tatsächlich nicht stattgefunden, und im Vergleich zu anderen Ländern in Europa steht Österreich immer noch gut da. Doch auch hierzulande haben Politiker unter dem Eindruck des Slogans "Mehr privat, weniger Staat" die öffentlichen Aufgaben sträflich vernachlässigt. Wir haben viel zu wenig in die Bildung unserer Migrantenkinder investiert — das ist langfristig katastrophal. Das Gleiche gilt für andere Investitionen, die wir auf kurz oder lang ohnehin tätigen müssen, vom Klimaschutz bis zur Altenbetreuung: Dass Scheinselbstständige aus Osteuropa für 1.000 Euro im Monat unsere Alten pflegen, kann doch keine Dauerlösung sein. Zieht ganz Europa mit, könnten Millionen Arbeitsplätze entstehen – denken Sie etwa an einen Ausbau der transeuropäischen Eisenbahnnetze.

STANDARD: Wer soll das bezahlen?

Schulmeister: Auf längere Sicht finanziert sich das vielfach von selbst. Investitionen in die thermische Sanierung etwa würden schon nach einem Jahr zwingend mehr an Steuern generieren, als der Staat an Förderung ausgegeben hat.

STANDARD: Wenn es so einfach ist, würden es die Staaten wohl tun.

Schulmeister: Eben nicht, denn das würde die unternehmerische Erkenntnis voraussetzen, dass es eine Vorfinanzierung braucht.

STANDARD: Also sollte der Staat ein höheres Defizit anschreiben?

Schulmeister: Natürlich – im Wissen, dass sich das auch für ihn rentiert. Doch die Maastricht-Kriterien erlauben das nicht, das ist ja gerade das Unsinnige an den Budgetregeln. Die Politik hat sich entmündigen lassen, sie traut sich nichts mehr. Der Neoliberalismus ist somit die erfolgreichsten Ideologie der Gegenaufklärung. Er führt die Menschen in die von Immanuel Kant zitierte selbstverschuldete Unmündigkeit – in dem Fall die Marktreligiosität – zurück.

STANDARD: Im Nationalratswahlkampf zeichnet sich eine Mehrheit für ein ganz anderes Projekt ab: eine massive Steuersenkung.

Schulmeister: In der gegenwärtigen Situation ist das falsch. Die Wirtschaftsgeschichte zeigt: Phasen der ökonomischen Depression wurden nie durch die Marktkräfte, sondern immer durch mehr Staat überwunden. In vielen Fällen leider durch Kriegsvorbereitungen wie jene Hitlers, aber auch durch Investitionsprogramme wie den New Deal von Franklin D. Roosevelt in den USA.

STANDARD: Deutschland hat aber eine deutlich niedrigere Steuerquote und schafft sogar ein Nulldefizit. Warum soll bei uns nicht gehen, was dort funktioniert?

Schulmeister: Deutschland hat 20 Jahre die Reallöhne nicht erhöht, sich so einen Wettbewerbsvorteil verschafft und die Exporte massiv gesteigert – aber das konnte nur funktionieren, weil andere europäische Staaten das Gegenteil machten und für die nötige Nachfrage sorgten. Seit 2009 hat sich die Regierung allerdings insgeheim von der Austeritätspolitik verabschiedet, den Mindestlohn eingeführt, Milliarden in die Energiewende gesteckt. Die Deutschen haben einige Achterln keynesianischen Wein getrunken, den anderen Ländern aber Enthaltsamkeit in Form eines Sparkurses verordnet.

STANDARD: Lässt sich nicht bei staatlichen Strukturen sparen, ohne Leistungen zu kürzen? Unzählige Rechnungshofberichte prangern Verschwendung an.

Schulmeister: Ich bin sehr für mehr Effizienz, doch zum Großteil sind die vielzitierten Strukturreformen eine ideologische Fata Morgana. Wenn Parteien die Lohnnebenkosten senken wollen und gleichzeitig andere Steuern ablehnen, dann muss zwangsläufig im Sozialbereich gespart werden – dass dabei konsequent verschwiegen wird, wie das geschehen soll, ist bedrückend.

Wer draufzahlt, ist klar: 40 Prozent der Einkommensbezieher haben von einer Senkung der Steuerquote gar nichts, weil sie so wenig verdienen, dass sie keine Steuern zahlen. Genau diese Menschen spüren aber, wenn die Sozialleistungen gekürzt werden. Das ist eine systematische Umverteilung zulasten des unteren Drittels der Gesellschaft. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass die Leidtragenden ihren Metzger selbst wählen.

STANDARD: Sie gelten als Linker, wehren sich aber gegen diese Einordnung. Warum?

Schulmeister: Dass ökonomische Theorien ganze Kontinente oder jüngst Südeuropa in Not bringen, regt mich auf, aber ideologisch bin ich nicht links. Was Linke von Jean-Jacques Rousseau über Karl Marx und Lenin bis hin zu den Großverbrechern eint, ist folgende Vorstellung: Der Mensch ist von Natur aus gut, die gesellschaftlichen Verhältnisse machen ihn schlecht – wenn wir diese ändern, wird der neue Mensch entstehen. Für mich als Empiriker ist das eine Horrorvorstellung. Es gibt in der Geschichte nicht die geringste konkrete Erfahrung, dass dies funktionieren kann. In diesen Fragen fühle ich mich Friedrich August von Hayek ...

STANDARD: ... Säulenheiliger des Neoliberalismus ...

Schulmeister: ... durchaus verwandt. Zu Recht hat er kritisiert, dass sich die Linken wie Gesellschaftsarchitekten gebärden, und auch ich halte das für Unsinn. Eine Gesellschaftsordnung muss evolutionär immer von Neuem gesucht werden, das ist ein Prozess des permanenten Ausbalancierens, der die Widersprüchlichkeit des Menschen als individuelles und soziales, als rationales und emotionales, als eigennütziges und altruistisches Wesen berücksichtigt. Im besten Fall kommt ein System heraus, in dem sich das Schlechtsein einfach nicht so auszahlt. Die soziale Marktwirtschaft der 50er- bis 70er-Jahre ist ein gutes Beispiel. (Gerald John, 11.9.2017)