Identitäre Bayern: Auf jeden Fall ist es besser, mit ihnen zu sprechen, als sich mit ihnen in einem virtuellen Bürgerkrieg real und symbolisch zu prügeln. Das verschafft ihnen unnötige Aufmerksamkeit.

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Identitären-Aufmarsch in Wien

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Ich weiß genau, wann ich zum ersten Mal hautnah den Auftritt der extremen Rechten in Deutschland erlebt habe. Das war am 3. Oktober 2016, dem Tag der Deutschen Einheit. Hunderte von brüllenden Demonstranten marschierten durch die Dresdner Innenstadt mit der Kopf-ab-Parole "Merkel muss weg". Ein Hauch von Weimar wehte über dieser Szene.

Hinter der medialen Allgegenwart autoritärer rechter Bewegungen und Führer tritt eine politische Gegenwelt, bis jetzt noch immer subkulturellen Zuschnitts, zutage, die mittlerweile in Ländern wie Deutschland, Österreich, Frankreich, Italien oder Schweden eine digital gut vernetzte Szene darstellt, die seit den 1990er- und 2000er-Jahren Verlage, Zeitschriften, Institute und Vorhutgruppen etabliert hat. Dazu gehören das Institut für Staatspolitik (IFS), die Identitären, die Zeitschriften Sezession und Junge Freiheit sowie diverse soziale Medien.

Seit der Wiedervereinigung hat sich ein metapolitisches Netzwerk entwickelt, das von einer Kulturrevolution träumt, die 1968 auszulöschen vermöchte. Sie tut dies nicht selten unter der krausen Bezugnahme auf den italienischen Marxisten Antonio Gramsci: Die Neue Rechte versteht sich als jene Strömung, die dem linksliberalen Milieu die kulturelle Hegemonie streitig machen will. Übrigens hat schon Jörg Haider gern den unverstandenen Begriff der "kulturellen Hegemonie" im Mund geführt.

Verglichen mit den direkten Erben von Nationalsozialismus und Faschismus nehmen sich Gruppen wie zum Beispiel die Identitären in der Tat neu aus. Nicht mehr die nationalistische Traditionspflege und germanische Liederkränze stehen im Vordergrund, sosehr sie im Ideologischen noch eine Rolle spielen mögen. In ihrem Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa sprechen Julian Bruns, Kathrin Glösel und Natascha Strobl von vier Momenten, die für die Neue Rechte charakteristisch seien: Jugendkult, Aktivismus, Popkultur und Corporate Identity.

Strukturell leben sie also davon, was sie so programmatisch verwerfen: postmoderne Leichtigkeit des Seins, Pathosverlust und die Einsicht, dass "Identität" stets etwas symbolisch Hausgemachtes und nichts Ewiges und Natürliches ist. All diese Gruppierungen tragen mit ihrem Dezentralismus und Individualismus, der an sektenhafte Momente links-linker, aber auch an avantgardistische Gruppen erinnert, das Kainszeichen jener Moderne in sich, die sie doch so verbissen bekämpfen.

Maximal 1000 Identitäre in Österreich

Ihr Verhältnis zu den Rechtsaußen-Parteien lässt sich als eine Mischkulanz aus Nähe und Distanz, aus Argwohn und Hoffnung beschreiben. Sie mögen relativ klein sein – die Anhänger der österreichischen Identitären werden auf maximal 1000 geschätzt -, aber ihre Fähigkeit, politische Stimmung zu erzeugen und Themen zu besetzen, geht über die schiere numerische Bedeutung hinaus. Das war auch bei der digitalen Lufthoheit in der ersten Runde des österreichischen Präsidentschaftswahlkampfes zu bemerken, verdanken die radikalen Rechten ihre – begrenzte – Anziehungskraft doch zwei Momenten, die für jedweden kulturellen Wandel entscheidend sind: dem Generationsphänomen Jugendlichkeit und dem medialen Wandel. Die selbstorganisierte digitale Öffentlichkeit verschafft ihnen einen Raum, den es zuvor nicht gegeben hat und mit dessen Hilfe sie den Mangel kompensieren, dass sie in der traditionellen Öffentlichkeit nur eine geringe direkte Stimme haben. Das ist übrigens die eigentliche Ursache für den Hass auf die angebliche "Lügenpresse".

Spätestens seit Generationswechsel und medialem Wandel sind die neuen aktiven und oftmals auch aggressiven Rechtsgruppierungen als eine Form von fundamentalistischem Widerstand gegen die Moderne zu begreifen, durchaus im Sinne ihrer geistigen Väter wie des italienischen Faschisten Julius Evola (Erhebung wider die moderne Welt, 1935). Auffällig ist das Selektive ihrer Themen: die Ablehnung von Homosexualität, der wütende Einspruch gegen den Wandel der Geschlechterbilder und damit verbunden gegen den Feminismus, die verzweifelte Abwehr historischer Erbschaften (wie der Shoah), die Abwehr der gegenwärtig islamisch bestimmten Migration nach Europa und der Wunsch nach einer Fortschreibung der Nation des 19. Jahrhunderts.

Letztendlich sind all diese Positionierungen aber Symptome für ein generelles Unbehagen an der globalisierten, offenen und liberalen Welt, die die Menschen um ihre fixe Identität bringt. Die Marke des "Identitären" ist nichts anderes als die trotzige Antwort auf den Verlust vermeintlich gewisser Identität, der im "identitären" Akt wiederhergestellt werden soll.

Gegner liberale Gesellschaft

In seinem lesenswerten Bericht Die autoritäre Revolte, der sich im Wesentlichen auf die deutsche und in der Fußnote auch mit der österreichischen Situation befasst, geht Volker Weiß auf die durchaus widersprüchlichen Befindlichkeiten und Diskurse ein. Er berichtet von einer Diskussion zwischen zwei Rechtsrechten in Berlin, Karlheinz Weißmann, Stammautor der Jungen Freiheit, und Michael Stürzenberger von der Initiative "Politically Incorrect". Während Stürzenbergers rechtspopulistische Intervention von einem Rundumschlag gegen den Islam getragen ist, sieht Weißmann, übrigens ähnlich wie der Erzähler in Houellebecqs provokanter Romansatire Die Unterwerfung (2015), den eigentlichen Gegner nicht im Islam, sondern in der liberalen Gesellschaft, die sich durch ihre Toleranz dem Islamismus ausliefere, dadurch, dass sie die "kulturelle und nationale Identität" untergrabe.

Von dem österreichischen Identitären Martin Lichtmesz (eigentlich Martin Semlitsch) stammt der Satz: "An Liberalismus gehen Völker zugrunde, nicht am Islam!" Das ist ein leicht abgewandeltes Zitat, das auf den Buchtitel eines Autors verweist, den Volker Weiß für den wohl wichtigsten deutschsprachigen Vermittler zwischen der radikalen Rechten vor und nach 1945 hält, nämlich des schweizerischen Publizisten Armin Mohler, langjähriger Direktor der renommierten Siemens-Stiftung in München. Er schuf die noble Formel der "konservativen Revolution", mit deren Hilfe rechte deutsche Vordenker wie Ernst Jünger, Carl Schmitt, Arthur Moeller van den Bruck oder Oswald Spengler wieder salonfähig und von ihrer zuweilen prekären Nähe zum Nationalsozialismus reingewaschen wurden.

Schatten der Vergangenheit

Wie steht es nun mit den Gemeinsamkeiten und Unterschieden neuer linker Bewegungen und der Neuen Rechten? Auf den ersten Blick könnten die Unterschiede im Hinblick auf Lebensstil, Semantik und Ethik nicht größer sein. Gleichwohl gibt es eine Art von Interdependenz zwischen Antifa und Anti-Antifa und eine Konvergenz. Mussolini, Hitler und Benes waren in ihrem nationalen "Sozialismus" gelehrige Schüler des politischen Marxismus. Die rhetorisch antikapitalistische Gegnerschaft zu Europa und zur Globalisierung verbindet sie heute ebenso wie ihre Ablehnung der liberalen Kultur. Jean-Claude Michéas linker Philippika gegen die linksliberale wertzersetzende Kultur dürften Neue Rechte in vielen Punkten zustimmen. Dass Linkspopulisten wie die Syriza mit Rechtspopulisten koalieren und der linksnationale Globalisierungsgegner Mélenchon Macron für ein gleich großes Übel hält wie Le Pen, ist in diesem Zusammenhang beredt.

Auf dem Feld des Sports ist es üblich, die Schwächen des Gegners wie auch die eigenen ins Visier zu nehmen. Der Neuen Rechten, so die übereinstimmende Meinung einschlägiger Autoren zum Thema, ist es nicht wirklich gelungen, aus dem Schatten der Vergangenheit zu treten. Was ihnen vor allem fehlt, das sind nachhaltige gesellschaftspolitische Antworten auf die von ihnen so gehasste Globalisierung – das haben sie mit ihren grimmigen links-alternativen Kontrahenten ein Stück weit gemein. Die illiberale Demokratie Orbáns oder Putins ist – ähnlich wie der südamerikanische "Sozialismus" unserer Tage – keine verlockende Alternative zu den prinzipiell erneuerungsfähigen repräsentativen Demokratien. Sie bleiben der Rahmen für neue soziale, ökologische und kulturelle Modelle, die positive Traditionen zu integrieren imstande sind.

Wie soll man den Herausforderungen durch die Neue Rechte begegnen? Auf diese Frage fallen die Antworten sehr unterschiedlich aus. Groß geworden sind die neuen rechten Gruppierungen durch Einwanderung und Globalisierung und damit verbunden durch den Islamismus. Traditionelle Ideologiekritik, uneingeschränkte kulturelle Toleranz und moralische Aufrüstung erweisen sich dabei als problematische Strategien mit höchst begrenzter Reichweite. Klüger und effizienter sind Moderation, Gelassenheit und Selbstvertrauen. Ängste lassen sich kaum durch Argumente und Vorwürfe aus der Welt schaffen; man kann ihnen indes begegnen, ohne sich anzubiedern. Die Zivilgesellschaft und die repräsentative Demokratien können die Globalisierung nicht verhindern, aber all die tiefgehenden gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen – den Wandel von Geschlechterbeziehungen, die Regionalisierung der einst autonomen Nationalstaaten, die Transformationen der reichen Gesellschaften nach 1989 – steuern und bearbeiten. Die ganz rechte oder ganz linke Rückkehr zu nationalen Traditionen und zum Protektionismus würde ungeheuren Schaden anrichten, sie würde vor allem – das wird oft übersehen – die Ärmsten dieser Welt treffen.

Soll man mit den Ideologen der Neuen Rechten in einen Widerstreit treten? Unter bestimmten Umständen ja, nämlich dann, wenn sie sich an dessen Spielregeln, Respekt vor dem und Anerkennung des Andersdenkenden, halten. Auf jeden Fall ist es besser, mit ihnen zu sprechen, als sich mit ihnen in einem virtuellen Bürgerkrieg real und symbolisch zu prügeln. Das verschafft ihnen unnötige Aufmerksamkeit. Der "Wahrheitskern" rechten Denkens, von dem Weiß spricht, das sind die rapiden Transformationen und die unterschiedlichen Reaktionen, die sie auslösen. Sie nicht ernst zu nehmen sei der eigentliche Fehler, hat schon Stuart Hall 1979 befunden. (Wolfgang Müller-Funk, 2.9.2017)