Harlem Désir ist neuer Beauftragter für Medienfreiheit der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Er warnt, im Namen der Sicherheit Meinungsfreiheit und Medien zu beschränken. Medienvielfalt stärke die Abwehrkraft der Gesellschaft

STANDARD: Wie ist es 2017 um die Medienfreiheit bestellt?

Désir: Es ist paradox. Einerseits verspricht das Internet breite, vielfältige Möglichkeiten, Meinung frei zu äußern und zu veröffentlichen. Andererseits beobachten wir Angriffe auf Medien in OSZE-Staaten, die bisher als sichere Häfen der Medienfreiheit galten. Wir beobachten Bedrohungen von Journalisten, vor allem weiblicher Journalisten, und eingesperrte Journalisten. Wir müssen uns fragen: Stehen wir, die OSZE, noch immer zu den Grundwerten der Organisation, die auf Sicherheit, Zusammenarbeit fußt, aber auch auf dem Einsatz für Menschenrechte und Meinungsfreiheit? Es gibt eine Menge Bedrohungen für Medien und Journalisten.

STANDARD: Kann man behaupten, dass alle 57 Mitgliedstaaten der OSZE Medienfreiheit ernst nehmen und achten?

Désir: Alle 57 Mitgliedstaaten haben bei ihrem Beitritt akzeptiert, die Medienfreiheit zu achten, und sie haben diese Funktion eines Beauftragten für die Freiheit der Medien geschaffen. Viele von ihnen sind da sehr kooperativ. Aber natürlich sehen wir Entwicklungen, die diese Übereinkunft infrage stellen. Und natürlich gibt es Länder, die unseren Forderungen gegenüber offener sein könnten.

"Die Situation in der Türkei ist Anlass für größte Besorgnis": OSZE-Medienbeauftragter Harlem Désir.
Andy Urban

STANDARD: Sie wurden in sehr herausfordernden Zeiten OSZE-Medienbeauftragter – wo fängt man da an?

Désir: Die Sicherheit von Journalisten hat für mich oberste Priorität. Einige Journalisten wurden in den vergangenen Wochen getötet, mehr als 170 sind in OSZE-Mitgliedsländern eingesperrt. Journalisten werden bedroht. Das waren die Anlässe meiner ersten Interventionen.

STANDARD: Die meisten Journalisten dürften in der Türkei im Gefängnis sitzen.

Désir: Die Situation in der Türkei ist Anlass für größte Besorgnis: Gerade läuft einer der größten Prozesse gegen eine Redaktion, gegen Mitarbeiter von Cumhuriyet in der Türkei – ihnen drohen Haftstrafen zwischen siebeneinhalb und 43 Jahren, nur weil sie in ihren Job als Journalisten gemacht haben. In den nächsten Tagen ist mit Urteilen zu rechnen. Wir haben die türkischen Behörden aufgefordert, die Verfahren einzustellen. Eine Reihe ausländischer Journalisten sitzt in der Türkei im Gefängnis – nur, weil sie schon einmal über Kurden berichtet haben. Ich habe auch Interpol aufgefordert, Fahndungsaufforderungen aus der Türkei genau zu prüfen. In einem Fall wurde ein entsprechender Vermerk gerade aufgehoben. Auch Interpol hat sich den Menschenrechten verpflichtet.

STANDARD: Was können Sie tun? Und wie reagiert beispielsweise die Türkei auf Ihre Aufforderungen?

Désir: Alle Mitgliedsstaaten – darunter auch die Türkei – haben uns damit beauftragt zu beobachten, ob die Medienfreiheit geachtet wird, und sofort Alarm zu schlagen, wenn sie verletzt oder bedroht wird. Und das haben wir in mehreren Schreiben und Aufforderungen an die türkischen Behörden getan.

STANDARD: In der Türkei wirft man Journalisten vor, sie unterstützten den Terrorismus. Nationale Sicherheit und Kampf gegen den Terrorismus werden aber in vielen Staaten verwendet, um Informations- und Medienfreiheit und Rechte von Journalisten einzuschränken.

Désir: Die Gegenüberstellung von Sicherheit und freier Meinungsäußerung ist unsinnig. Die Freiheit, seine Meinung zu äußern, war ja schon Ziel des Terrors, denken Sie an die mörderischen Anschläge auf "Charlie Hebdo". Wir können unsere Gesellschaft nur verteidigen auf der Basis unserer Grundwerte, und dazu zählt insbesondere die Meinungsfreiheit. Ich möchte den Mitgliedsstaaten klarmachen, dass Medienfreiheit und Medienvielfalt eine Stärke der Gesellschaft und ihrer Sicherheit im Kampf gegen den Terrorismus ist. Der größte politische Fehler ist, Medienfreiheit im Namen der Sicherheit einzuschränken. Das schwächt die Gesellschaft. Es gibt keine starke Gesellschaft mit schwachen Medien und schwacher Medienfreiheit. Im Gegenteil: Wenn man die Vielfalt der Medien stärkt, stärkt man damit die Gesellschaft in diesem neuen Kontext der Unsicherheit.

STANDARD: Das scheint sich jedenfalls noch nicht in allen OSZE-Staaten herumgesprochen zu haben.

Désir: Natürlich muss es Maßnahmen gegen terroristische Propaganda im Internet geben, gegen Aufrufe zu Gewalt und Hasspostings. Wir müssen hier definieren, wo die Grenzen der Legitimität sind – in Zusammenarbeit der Gesetzgeber und der Exekutive mit Onlineplattformen. Man kann mit Beschränkungen nicht einfach freie Meinungsäußerung unterbinden. Wenn wir in der Konfrontation mit dem Terrorismus demokratische Grundwerte aufgeben, dann geben wir uns selbst auf und schwächen unsere Gesellschaft.

STANDARD: Sie haben etwa Deutschland bei gesetzlichen Maßnahmen zu Hasspostings beraten. Wo soll man in einem Gesetz die Grenze ziehen?

Désir: Es geht um einen gesetzlich genau definierten Mechanismus, wann und wie man Onlineplattformen anweisen kann, Inhalt zu löschen oder zu blockieren. Wir versuchen, da Standards zu entwickeln. Ein offenes, freies Internet ist eine große Chance für Vielfalt der Meinungen und Perspektiven und Informationen.

"Es gibt keine gemeinsamen professionellen und ethischen Grundlagen jener, die publizieren – noch weniger als früher": Désir über die unendlichen Weiten des Internet.
Andy Urban

STANDARD: Die Euphorie über die Chancen des Internet scheint mir unter dem Eindruck von Hasspostings, Desinformation aus unterschiedlichsten Gründen, digitalen Filterblasen und Echokammern und ähnlichen Phänomenen doch etwas enttäuscht.

Désir: Das Risiko eines Backlashs besteht zweifellos. Wir bewegen uns da in einer neuen Welt, in der heute praktisch jeder die Möglichkeiten hat, die früher nur klassische Medien hatten. Natürlich wirkt sich das auf die Qualität der Information aus. Es gibt keine gemeinsamen professionellen und ethischen Grundlagen jener, die publizieren – noch weniger als früher. Wir müssen gegen Fake News und Diffamierung eine Selbstregulierung entwickeln, einen Ethikkodex und Faktencheck-Mechanismen. Wenn uns das nicht gelingt, drohen staatliche Einschränkungen und Sperren im Internet.

STANDARD: Ist das nicht auch eine allgemeine Erziehungsaufgabe?

Désir: Medienerziehung ist natürlich ein Thema. Das ist eine neue Welt, in der wir eine neue Art der Regulierung entwickeln müssen.

STANDARD: Medienkonzentration gehört zum Kanon der Gefahren für die Medienvielfalt und Medienfreiheit. Inzwischen hört man dazu den Einwand, die Frage sei mit den digitalen Möglichkeiten der Meinungsäußerung überholt.

Désir: Natürlich kann sich grundsätzlich jeder online äußern oder eine Art Onlinemedium gründen. Aber dennoch: Der technologische Wandel und die wirtschaftliche Entwicklung steuern auf starke Medienkonzentration und Abhängigkeit von einigen wenigen Telekomriesen zu. Das kann die Pluralität der Medien und der Meinungen einschränken. Wie können wir unter diesen Bedingungen Vielfalt sichern, welche Mechanismen lassen sich dafür entwickeln? Diesem Thema wollen wir uns, gemeinsam mit den Unternehmen, Journalisten, Behörden widmen.

STANDARD: Was wollen und können sie da tun?

Désir: Wir versuchen dafür ein Bewusstsein zu schaffen, entwickeln Empfehlungen und dokumentieren positive Beispiele, beraten Regierungen und Behörden, auch bei der Umsetzung. Und wir zeigen Negativbeispiele auf, die es auch in EU-Mitgliedsländern gibt. Wenn etwa öffentliche Stellen und Firmen gezielt in einem regierungskritischen Medium keine Werbung mehr schalten, dann gefährdet das dieses Medium und damit die Vielfalt.

STANDARD: Wie das in Ungarn bei "Nebszadbadsag" der Fall war, dessen österreichischer Eigentümer diese nationale Zeitung schließlich einstellte und seine ungarische Zeitungsgruppe einem regierungsnahen Investor verkaufte. Nun scheint sich das Spiel mit den letzten größeren unabhängigen Regionalzeitungen in Ungarn zu wiederholen – wieder mithilfe österreichischer Eigentümer. Da scheint es jedenfalls im Zeitungssektor und im öffentlichen Rundfunk nicht mehr sehr viel Medienvielfalt zu geben.

Désir: Ja – die wichtigste Tageszeitung dort ist verschwunden wegen dieses wirtschaftlichen Drucks. In anderen Ländern sehen wir mehr und mehr Zeitungen in der Hand von Oligarchen und Tycoons, nicht selten mit Verbindungen zu den politischen Machthabern. Ich kann nur daran erinnern: Unsere Mitgliedsstaaten haben sich der Medienfreiheit und der Medienvielfalt verpflichtet. Wir müssen sie nachdrücklich daran erinnern, sie zu schaffen und zu sichern.

"Dass selbst EU-Mitgliedsländer Versuche unternehmen, die Unabhängigkeit und Freiheit der Medien so einzuschränken, ist, sagen wir, doch überraschend": Désir zur Lage in Polen.
Andy Urban

STANDARD: Gegen Polen hat die EU erst ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, als sich die Regierung das Justizsystem vornahm. Nicht aber, als sie zuvor den öffentlich-rechtlichen Rundfunk umorganisierte und auf Linie brachte. Die Pläne verstießen nach dem Befund renommierter österreichischer Rundfunkrechtler – Walter Berka und Hannes Tretter – gegen die Menschenrechtskonvention.

Désir: Dass selbst EU-Mitgliedsländer Versuche unternehmen, die Unabhängigkeit und Freiheit der Medien so einzuschränken, ist, sagen wir, doch überraschend. Wir beobachten natürlich auch aufmerksam die Entwicklung in Polen. Und unser Büro hat seit 2015 mehrfach öffentlich gegen politischen Druck auf den Rundfunk protestiert, etwa dagegen, Polens Finanzminister das Rundfunkmanagement bestellen zu lassen oder gegen die Kompetenzen einer neuen Medienbehörde. Eine meiner ersten Beschwerden im Amt richtete sich gegen die Strafverfolgung eines Journalisten, der ein Buch über den Verteidigungsminister veröffentlicht hat. Wir können solche Entwicklungen nicht hinnehmen. Da müssen wir Alarm schlagen.

STANDARD: Bestellt nicht in Frankreich der Staatspräsident die Führung des öffentlichen Rundfunks?

Désir: Das war bis 2012 so. Aber natürlich, das sorgte auch in Frankreich für lange und intensive Diskussionen. Inzwischen macht das eine Medienbehörde.

STANDARD: Vielleicht müssen Sie ihren Blick da bald auf Österreich richten: Alle drei größeren Parteien haben angekündigt, dass sie das ORF-Gesetz überarbeiten wollen.

Désir: Wir werden das verfolgen – und geben auch gerne Ratschläge.

STANDARD: Gibt es da Anlass zur Sorge?

Désir: Österreich hat eine starke, freie und vielfältige Medienlandschaft und eine solide Tradition der Medienfreiheit, die man auch zu verteidigen weiß. Aber all unsere Mitgliedsländer stehen vor neuen Herausforderungen – ganz besonders im Namen der öffentlichen Sicherheit. Der Schutz von journalistischen Quellen ist da ein wichtiges Thema – und den behalten wir überall im Auge.

STANDARD: Auch in Österreich gibt es Pläne der ÖVP für ein generelles "Überwachungspaket".

Désir: Deshalb habe ich den Punkt erwähnt. Wir haben klare Kriterien dafür, die jedes Land respektieren sollte. Natürlich kann es in bestimmten Fällen, unter sehr konkreten gesetzlichen Bestimmungen und richterlicher Kontrolle, Abhörmaßnahmen geben. Aber das darf nicht journalistische Arbeit und den Schutz ihrer Quellen beeinträchtigen – und die Berichterstattung über Terrorismus darf nicht in die Nähe von Komplizenschaft gerückt werden. Natürlich kann es auch Einschränkungen geben für die Veröffentlichung etwa von Propagandavideos. Die internationale Rechtsprechung definiert die Anforderungen schon sehr genau. Und wir bieten gerne die Plattform für einen internationalen Austausch der Politik, der Behörden und der Medien, wie man mit den Herausforderungen durch den Terrorismus umgehen kann, – und insbesondere auch der Rechtsprechung.

STANDARD: Sehen Sie Defizite in Sachen Medienfreiheit an den Gerichten?

Désir: Praktisch überall sehen Verfassungen und andere Gesetze, mögen sie die da und dort problematisch sein, Medienfreiheit vor. Aber wenn man sich ihre Umsetzung ansieht, die Rechtsprechung – dann ist das Prinzip der Medienfreiheit schon weit weniger klar. Das mag an politischem Druck liegen, an Konflikten mit anderen gesetzlichen Regelungen – etwa im Namen der nationalen Sicherheit. Wir werden also den Dialog suchen, den internationalen Austausch mit den nationalen Justizbehörden – sie arbeiten ja alle auf Basis derselben internationalen Grundrechte.

STANDARD: Sehen Sie eigentlich neben der Verteidigung der Medienfreiheit womöglich auch das Verantwortungsbewusstsein der Medien als eine Aufgabe in Ihrem neuen Job?

Désir: Meine Rolle ist die Verteidigung der Medienfreiheit. Die OSZE ist die einzige internationale Organisation, die eine so starke Funktion für diesen Bereich geschaffen hat. Ich kann Mitgliedsstaaten auffordern, ihre Politik zu ändern. Ich arbeite mit NGOs, mit Journalisten- und Medienorganisationen – aber ich bin keine NGO. Das ist ein Thema für die Journalisten und ihre Ethikkodices – aber wir können bei deren Entwicklung helfen. Wir alle müssen aufpassen, dass nicht Beschränkungen für die Medien die Antwort auf Fake News sind. Die Antwort darauf sind qualitätvolle, verlässliche News. Politiker wiederum müssen mehr Kritik aushalten – und nicht mit Verleumdungsklagen versuchen, kritische Journalisten mundtot zu machen.

STANDARD: Wir reden schon eine Stunde über Medienfreiheit – und haben noch nicht einmal das T-Wort verwendet: Donald Trump.

Désir: Wir sind sehr besorgt über seinen Umgang mit Medien. Er nennt einige der wichtigsten Medien der USA "Feinde des Volkes", hinterfragt ihre Legitimation. Die USA sind eine der wesentlichsten Säulen der Medienfreiheit in der Welt und ihrer Rolle als Grundpfeiler von Demokratien. Nun definiert der Präsident der USA Medien als Ziel. Damit setzt er auch die Sicherheit der Journalisten im Land und auf der ganzen Welt aufs Spiel. Wir haben in einem Schreiben an die US-Administration Respekt für die Medien und ein Ende dieser Angriffe gefordert.

STANDARD: Ist Ihr Job nicht manchmal auch ein bisschen frustrierend? Sie können warnen, protestieren – aber kaum etwas durchsetzen.

Désir: Wir kämpfen jeden Tag, und natürlich kann es da und dort frustrieren, wenn man sieht, dass Journalisten in der Türkei eingesperrt bleiben, ihnen der Prozess gemacht wird, weil sie ihre Arbeit gemacht haben. Ich würde sagen: Mit den meisten Mitgliedsstaaten haben wir ein konstruktives Verhältnis. Und ich sehe, wir können etwas erreichen, etwa mit Ratschlägen für die Gesetzgebung, aber auch als Watchdog und mit unseren Interventionen und in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. Wir haben – in unserer Unabhängigkeit – ein starkes Mandat, und wir nutzen es. Das stimmt mich zugleich enthusiastisch. (Harald Fidler, 3.9.2017)