Was wir auf unserer Reise oft zu hören bekommen: "Kennichnicht. Wosollndassein. Niegehört." Wenn wir überhaupt eine Antwort bekommen. Was wir vorher gefragt haben: "Entschuldigen Sie, wo befindet sich denn das Mittelpunktsmonument in Ihrer schönen Gemeinde?" Wir sind nun also mit unserem riesigen Wohnmobil in Gunskirchen im zentralen Oberösterreich unterwegs, die Mittagssonne strahlt und lässt die Neubausiedlung in besonders vorteilhaftem Licht erscheinen. Vor uns schiebt eine junge Mutter ihr Kind in einem Wagen spazieren. Wir halten neben ihr, kurbeln das Fenster herunter, stellen unsere Eingangsfrage, doch die Frau zieht ohne Antwort von dannen.

Eine Tschick weist uns den Weg

Später, vor dem örtlichen Supermarkt. Wir kommen gerade vom Einkaufen für unser Mittagessen zurück, nachdem wir den ganzen Morgen auf der Suche nach dem Mittelpunktsdenkmal waren. Drei alte Frauen stehen vor dem Zigarettenautomat beisammen, wollen Gauloises-Liberté-Toujours ziehen und suchen für den Altersnachweis eine Bankomatkarte. Ich halte ihnen meine eigene entgegen, und während eine Frau sie mit offenem Blick in die Hand nimmt, stelle ich ihr die entscheidende Frage. Sie "hat da schon mal was g'hört, aber wo genau, da muss sie passen". Sie fragt ihre Freundinnen. Eine Frau mit gefärbtem roten Haar zuckt mit den Schultern. Die dritte im Bunde hält die Zigarettenpackung in Händen, gibt mir meine Karte zurück und sagt: "Hier bei uns in Gunskirchen? Da müssen sie sich irren, Sie meinen sicher Grieskirchen."

Ich muss lachen über das "bei uns". "Ja, 'bei Ihnen' steht ein Mittelpunktsmonument. Ganz sicher." – "Woher wissen Sie das", fragt die Frau mit dem offenen Blick. "Wir wissen das aus dem Internet", sage ich. "So, aus dem Internet", sagt sie. – "Dort steht, dass das Monument so was wie ein polierter Baumstamm ist, der aus dem Boden ragt", sage ich. "Ein Baumstamm. Der aus dem Boden kommt." – "Ja", sagt die Frau mit den roten Haaren, "jetzt, wo sie von einem Baumstamm sprechen, kommt mir das irgendwie doch bekannt vor. Probieren Sie’s doch mal da lang", und zeigt in eine Richtung, die sich später im Wohnmobil nach einem Blick auf die Straßenkarte als Westen herausstellt.

Ich bedanke mich herzlich, steige in unser Gefährt ein und tatsächlich, keine Viertelstunde später, taucht neben der Bundesstraße 1 nach Wels dieser seltsame Baumstamm auf, ausgerechnet neben einer Baumschule. 

Ein Hoch auf exakte Koordinaten

Was wir an dieser Stelle den Verantwortlichen zurufen wollen: Liebe Planungsbehörden, die ihr für die Errichtung von Denkmälern, Monumenten, Gedenkstätten in Oberösterreich verantwortlich seid, schildert doch eure Monumente besser aus, um sie leichter auffindbar zu machen. Und veröffentlicht die Koordinaten dann bitte, bitte in den entsprechenden Gemeindeblättern und Lokalzeitungen, damit da auch wirklich nichts schiefgehen kann. Wir, liebe Gunskirchner, Oberösterreicherinnen und -österreicher, Touristen und Weltbürger, freuen uns jedenfalls, Ihnen hiermit die exakten geografischen Längen- und Breitengrade des oberösterreichischen Mittelpunktsmonument durchzugeben: 

48°08'11.7" 13°57'51.9"

Oder sollen wir die einzigen sein, die dieses besucht haben werden?

toxic dreams

Die realen Orte – und die wahren

Queequeg stammte von Kokovoko, einer Insel weit im Westen und Süden. Sie ist auf keiner Karte verzeichnet; die wahren Orte sind das nie.

Am Beginn des 12. Kapitels von "Moby Dick" – hier in der Übersetzung von Matthias Jendis – manövriert uns Ismael, der Erzähler der Geschichte, in ein scheinbares Paradox. Bei unserer Fahrt orientieren wir uns ständig an verschiedenen Karten: Mal ist das Navigationsgerät des Wohnmobils genauer, dann wieder muss eine App auf dem Smartphone befragt werden; und die verschiedenen Programme liefern nicht immer dieselbe schnellste Strecke, was Anlass zu Diskussionen, Umwegen und erhöhter Ortskenntnis gibt. Wohin aber bewegen wir uns, wenn die wahren Orte nie auf einer Karte verzeichnet sind?

Eine Fahrt, wie wir sie unternehmen, birgt durchaus Ambivalenzen: Neben dem ökologischen Aspekt eines auf einem benzingetriebenen Fahrzeug basierenden Kunstprojekts in den Jahren, der alle Grenzwerte überschreitenden Feinstaub-Belastung, ist das vor allem die Frage nach einer Form des In-Verbindung-Seins. Immer sind wir Durchreisende, nirgends hält es uns länger. Nach einer Woche auf Achse beginnen die verschiedenen Pensionszimmer mitsamt ihren Frühstücksbüffets in den kleinen ostösterreichischen Orten langsam ineinander zu verschwimmen.

An realen Orten mangelt es nicht, aber die Augenblicke, an denen sie zu wahren Orten werden, sind selten. Deshalb können sie auf keiner Karte verzeichnet sein, denn sie werden dazu erst, wenn wir da sind und eine Beziehung herstellen und wenn wir uns an einen Ort hingeben und er etwas in uns berührt.

Zum Beispiel bei unserem kleinen Reenactment einer Szene aus dem Film "Fahrenheit 451" in der wir Moby Dick lesend und memorierend durch die Stiftsbibliothek St. Florian gingen – und uns eine beaufsichtigende Mitarbeiterin des Stifts im Verborgenen hinter einem Bücherregal dieser Melville-Kakophonie gelauscht hat.

toxic dreams im Bauch eines Bücherwals: die Bibliothek des Stiftes St. Florian.
Foto: toxic dreams

Oder am Ufer der Traun, beim freundschaftlichen Harpunen-Kampf am Fuß einer Brücke, die ihr Befahren durch die Autos oben zu uns nach unten mit einem Sound entfernter Stammestrommeln quittierte.

Freundschaftliches Kräftemessen unter einer Traunbrücke: Michael Strohmann & Didi Bruckmayr
Foto: toxic dreams

Oder während der Rafting-Tour auf der Salza, als wir nach dem rhythmischen Rudern und ausgelassenem Johlen zu siebt auf Anweisung unseres Guides die Paddel aus dem Wasser hoben und in Stille durch einen schmalen, lichtdurchfluteten steirischen Canyon glitten.

Der Grund, warum die wahren Orte auf keiner Karte verzeichnet sind, wäre dann, dass sie zunächst flüchtig sind. Bestand können sie nur auf unseren jeweiligen, inneren Landkarten finden. (Peter Stamer, Markus Zett, 04.09.2017)

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