Im Blogbeitrag "Freud und der Sex im schiitischen Islam" war die Rede von der Schriftstellerin Olympe de Gouges, die während der von Männern dominierten Französischen Revolution die "Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin" verfasste – ein Plädoyer, das weithin ungehört verhallte. Einer ihrer wenigen männlichen Zeitgenossen, der sich ebenfalls leidenschaftlich für die Rechte der Frauen einsetzte, war der Philosoph, Mathematiker und Politiker Nicolas de Condorcet, der, ähnlich wie de Gouges, den Ausschluss der Frauen von den Menschenrechten als "Akt der Tyrannei" brandmarkte.

Der Geschichtsoptimismus der Aufklärer ...

Bekannt wurde Condorcet, der auch für die Gleichberechtigung von Menschen schwarzer Hautfarbe und die Abschaffung der Sklaverei eintrat, vor allem als Vertreter des "Fortschrittsoptimismus" der Aufklärer. Sein geschichtsphilosophisches Werk "Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes", das er im Versteck – Robespierre hatte gegen ihn einen Haftbefehl erlassen – verfasste, ist ein Schlüsseltext der Aufklärung und gilt als Testament des 18. Jahrhunderts. Condorcet unterteilt die Entwicklung der Menschheit in neun Epochen, und fasst Geschichte als ein Voranschreiten zu immer größerer Vollkommenheit auf. Sein Optimismus gründet auf sein grenzenloses Vertrauen in die Perfektibilität (ein Zauberwort der Aufklärung) der Menschheit, also auf ihre "Vervollkommnungsfähigkeit" auf wissenschaftlichem, technischem – aber auch auf politischem und moralischem Gebiet.

"Die Zeit wird kommen", schreibt er, "da die Sonne nur mehr auf freie Menschen scheint. Menschen, die keinen anderen Herren anerkennen werden als ihre Vernunft. Da es Sklaven und Tyrannen, Priester und ihre stumpfsinnigen und heuchlerischen Werkzeuge nur mehr in Geschichtsbüchern und auf der Bühne geben wird."¹

Heute erscheinen uns die geschichtsphilosophischen Ideen Condorcets und anderer Aufklärer, mehr noch: jede Beschäftigung mit einem Gegenstand wie Geschichtsphilosophie obsolet. Und der Geschichtsoptimismus Condorcets – zumal nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts – hoffnungslos naiv. Wir könnten hier allerdings  einem Missverständnis aufsitzen. Nicht so sehr in unserem Urteil über die Geschichtsphilosophie der Aufklärer. Sondern über uns. Denn bei genauerem Hinsehen scheint sich in fast jedem von uns ein – gar nicht so versteckter – Geschichtsoptimist zu verbergen.

 ... und der Geschichtsoptimist in uns

Zum Beispiel in meinem Freund Kave, einem aus Teheran stammenden, seit Jahren in Wien lebenden Politologen, der jeden naiven Geschichtsoptimismus von sich weisen würde. Dennoch aber höre ich ihn, wann immer ihm Phänomene wie Rassismus begegnen, ausrufen: "Dass es so etwas noch gibt. Dabei schreiben wir doch schon ..." – gefolgt von der jeweils aktuellen Jahreszahl. Zuletzt geschehen, als er mir von der Reaktion der FPÖ-Jugend Kärntens auf die Wahl des "Mister Kärnten 2017", eines gebürtigen Iraners, erzählte. Eine Funktionärin der dortigen FPÖ-Jugend hatte sich an der iranischen Abstammung und am "persischen Aussehen" des Erwählten gestoßen. Und auch diesmal schloss Kave seinen Bericht über den rassistischen Vorfall mit den Worten: "Dass es so etwas noch gibt – dabei schreiben wir doch schon 2017!"

Funktionärin der FPÖ-Jugend kritisierte die Wahl Parsa Djawadiraads (Mitte) zum Mr. Kärnten.
Foto: MisterCompany/Pail

Ich muss, wann immer ich Kave "Dabei schreiben wir doch schon ..." rufen höre, an eine Szene aus der Verfilmung von Jane Austens "Mansfield Park" denken, in der jemand empört ausruft: "Dabei schreiben wir doch schon 1806!", woraufhin im Kino gelacht wurde. Und – bei aller Ernsthaftigkeit des Themas – muss auch ich, wann immer Kave diesen seinen Standardsatz ausruft, ein Lachen unterdrücken. Zum einen, weil der Geschichtsoptimist in Kave sich immer dann und gerade dann meldet, wenn die Wirklichkeit diesen seinen Geschichtsoptimismus zu widerlegen scheint: "Wir schreiben doch schon 2017!" heißt ja nichts anderes als: "Wir schreiben doch schon 2017! Also müsste es auf dieser Welt freier, gerechter und vernünftiger zugehen als jemals zuvor. Warum gibt es dann aber noch – die FPÖ-Jugend Kärnten?"

Von Revolution zu Revolution schlimmer

Zum anderen, weil Kave Iraner ist. Und es wenige Länder gibt, deren jüngere Geschichte Kaves – verstecktem – Geschichtsoptimismus so krass zu widersprechen scheinen, wie jene Irans.

Vor über einhundert Jahren rangen die Iraner, während der blutigen konstitutionellen Revolution 1905 bis 1911, den absolut herrschenden Königen der Kadjaren-Dynastie eine demokratische Verfassung nach belgischem Vorbild ab. Frauen(rechtlerinnen) spielten bei dieser überwiegend säkularen Revolution eine wichtige Rolle. Formal blieb die demokratische Verfassung unter den 1925 bis 1979 herrschenden Könige der Pahlevi-Dynastie zwar in Kraft. Von einer liberalen Phase zwischen 1940 bis 1953 abgesehen, herrschten die beiden Pahlevi-Monarchen aber de facto diktatorisch.

Einen weiteren revolutionären Schub brachte die Bewegung zur Verstaatlichung des iranischen Erdöls Anfang der 1950er-Jahre, die eng mit dem Namen des legendären Premierministers Mossadegh verbunden ist. 1953 wurde Mossadegh gestürzt, danach herrschte Mohammad Reza Pahlevi, der letzte Schah des Iran, als Diktator – bis zur islamischen Revolution des Jahres 1979. Eine Revolution, die entgegen anderslautender Gerüchte – etwa die, sie sei den Linken von den Anhängern Khomeinis "gestohlen" worden – das Prädikat "islamisch" durchaus zu Recht verdient. Dennoch hatte wohl die Mehrheit der Revolutionäre auf eine freiere und gerechtere Gesellschaft gehofft. Was herauskam, ist allzu bekannt. Die iranische Gesellschaft wurde nicht nur nicht freier. Freiheiten, die unter dem letzten Schah gerade erst eingeführt worden waren, wie etwa das Recht der Frauen auf Scheidung oder das Sorgerecht für geschiedene Frauen, wurden abgeschafft. Mehr noch: Die Islamische Republik bescherte den Iranerinnen und Iranern neue beziehungsweise seit langem unbekannt gewesene Dimensionen der Unfreiheit: Kopftuchzwang, Todesstrafe für Homosexuelle, Steinigung bei außerehelicher Liebe, Todesstrafe für den Abfall vom Islam, die Entrechtung hunderttausender Angehöriger religiöser Minderheiten und anderes mehr. Unfreiheiten, die man sich im Iran der 1960er- und 1970er- Jahre nicht hätte vorstellen können, zum Teil vielleicht nicht einmal zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zur Zeit der konstitutionellen Revolution.

Doppelte Unvorstellbarkeit

Hier liegt allerdings eine doppelte Unvorstellbarkeit vor: Dass ein Ehemann in der Islamischen Republik Iran seine Ehefrau, die er in flagranti beim Ehebruch überrascht, töten kann, ohne Strafverfolgung befürchten zu müssen, neunjährige Mädchen hingegen strafmündig sind und hingerichtet werden können, das hätte sich eine Frauenrechtlerin der konstitutionellen Revolution vor einhundert Jahren – hätte man sie gefragt, wie sie sich die Situation der Frauen im Iran in einhundert Jahren vorstellen würde – nicht ausmalen können. Umgekehrt können wir uns im Jahr 2017 nicht vorstellen, dass es vor einhundert Jahren im Iran Frauenrechtlerinnen gab. Wie wir uns ohnehin nicht vorstellen können, dass es in einem Land, in dem sich 1979 eine islamische Revolution ereignete, 1905 bis 1911 eine demokratisch-liberale stattgefunden haben soll.

Im Iran scheint also die Situation nach jeder revolutionären Anstrengung noch schlimmer geworden zu sein: Die konstitutionelle Revolution mündete in die Diktatur des ersten, die Bewegung zur Verstaatlichung des Erdöls in die Diktatur des zweiten Pahlevi-Monarchen. Und die islamische Revolution in ein Mörderregime, das mitunter an das Universum eines perversen Fantasy-Autors erinnert.

Aber halt: Wenn es stimmt, dass es im Iran nach jeder revolutionären Anstrengung nur "noch schlimmer" geworden ist, dann müsste die Situation der Menschen vor der konstitutionellen Revolution, also zu Beginn des 20. Jahrhunderts, "viel besser" gewesen sein als heute, im Jahr 38 nach der Islamischen Revolution. Eine schon auf den ersten Blick absurde Vorstellung. In den letzten einhundert Jahren haben sich im Iran Faktoren wie Einkommen, Gesundheit, Bildung, Lebenserwartung, soziale Sicherheit et cetera drastisch und – weil von einem tieferen Ausgangsniveau aus startend – auch stärker verbessert als etwa in Europa oder den USA. Vor einigen Jahren haben US-Experten das iranische Gesundheitssystem, speziell die sogenannten "Gesundheitshäuser" in entlegenen ländlichen Regionen, den Zuständigen in den US-amerikanischen Südstaaten sogar zur Nachahmung empfohlen.

Auch die oben kritisierte Situation der iranischen Frauen hat sich – Islamische Republik hin oder her – verglichen mit der Zeit um 1900 in vielerlei Hinsicht grundlegend verbessert: So ist etwa die Mehrzahl der vier Millionen Studierenden im Iran und ein Viertel des akademischen Personals weiblich. Etwa ein Drittel aller Frauen ist berufstätig.

Gibt es ihn also doch, den Fortschritt?

Wie im Iran begann das 20. Jahrhundert auch für viele Menschen in Europa und Amerika mit großen Hoffnungen auf umfassende gesellschaftliche Emanzipation – Stichwort Oktoberrevolution. Im Rückblick, erscheint uns das 20. Jahrhundert aber als ein Jahrhundert der Katastrophen und der Barbarei. Dennoch aber erfreuen sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Menschen in Amerika und Europa ohne Zweifel einer ungleich besseren Lebensqualität und eines weit besseren Lebensstandards als um 1900.

Für den Geschichtsoptimismus Condorcets und meines Freundes Kave scheint es also doch gute Argumente zu geben. Wie lassen sich aber all die Fortschritte im Iran, wie auch anderswo, mit dem Befund zusammendenken, dass es im Iran, wie auch anderswo, nach revolutionären und emanzipatorischen Anstrengung "alles" meist "noch schlimmer" wurde? Durch das – offensichtlich falsche – Klischee, Fortschritte habe es bloß in naturwissenschaftlicher und technologischer Hinsicht gegeben, politisch und gesellschaftlich gäbe es hingegen nur Stagnation oder Rückschritte, lässt sich dieser Widerspruch jedenfalls nicht auflösen.

Verwirrend-widersprüchliche Befunde

Warum soll uns das alles aber überhaupt interessieren? Sollten wir solche Überlegungen nicht den Geschichtsphilosophen überlassen – falls es solche noch gibt?

Sollten wir nicht. Heute, über hundert Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, werden wieder einmal grundlegende zivilisatorische Normen über Bord geworfen. In den 1930er-Jahren gingen junge Menschen aus aller Welt nach Spanien, um gegen die von Hitler und Mussolini unterstützen Faschisten zu kämpfen. In den letzten Jahren gingen tausende junge Menschen aus Europa nach Syrien und in den Irak, um in einem Religionskrieg Andersgläubige abzuschlachten und ihre Heiligtümer zu zerstören. Als Religionskrieg zwischen "Juden" und "Moslems" nehmen wir auch den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern wahr, längst nicht mehr als Konflikt zwischen dem israelischen und dem palästinensischen Nationalismus. In Europa wiederum ist die Wiederkehr des Nationalismus seit dem Zerfall der Sowjetunion – im Jugoslawienkrieg der 1990er-Jahre sowie im Konflikt zwischen der Ukraine und Russland – mit Prozessen des zivilisatorischen Rückschritts verbunden. Und zuallerletzt ruft der wildgewordene Nationalismus des US-Präsidenten Trump und sein eskalierender verbaler Schlagabtausch mit Nordkorea apokalyptische Ängste wach.

Vor dem Hintergrund dieser verwirrend-widersprüchlichen Befunde drängt sich die weiter oben totgesagte Geschichtsphilosophie wieder auf – und stellt Fragen. Zum Beispiel die, ob wir wieder einmal Zeugen einer Umkehr des Zivilisationsprozesses sind. So wie es laut unseren Schulbüchern beim Übergang von der Spätantike ins Frühmittelalter der Fall gewesen sein soll.

Aus theologischen Motiven vergewaltigt

In den 1980er-Jahren wurden in den Gefängnissen der Islamischen Republik Iran zahlreiche junge Frauen, allesamt politische Gefangene, vor ihrer Exekution vergewaltigt. Die Vergewaltigungen hatten einen theologischen Hintergrund. Nach islamischer Überlieferung gelangen Jungfrauen, die sterben, ins Paradies. Die Vergewaltigungen sollten dies verhindern. Um die Vergewaltigungen ihrerseits islamrechtlich zu legitimieren, zwang man die Frauen, knapp vor ihrer Exekution, mit einem ihrer Wächter eine sogenannte Zeitehe einzugehen. In einigen Fällen erhielten die Eltern der Exekutierten das Brautgeld.²

Die Legitimierung der Vergewaltigungen via Zwangsverehelichung wäre aber vielleicht gar nicht notwendig gewesen. Wie Ezzat Mossallanejad meint,³ sehe der Koran zwar Strafen für außerehelichen Geschlechtsverkehr vor, nicht jedoch (oder zumindest nicht explizit) für Vergewaltigung. Zugleich gestatte er die sexuelle Versklavung ungläubiger weiblicher Kriegsgefangener⁴. In der Islamischen Republik Iran werden (bestimmte) politische Gefangene als Menschen betrachtet, "die Krieg gegen Gott führen". Dieser Logik folgend, könnten, so Mossalanejad, weibliche politische Gefangene als Kriegsbeute angesehen werden, deren Versklavung – und ergo Vergewaltigung – im Sinne des Korans legitim wäre.

In den 80ern wurden Frauen vor ihrer Exekution vergewaltigt, damit sie nicht als Jungfrauen sterben.
Foto: AP/Str

Wie auch immer. Was uns an diesen düsteren Aspekten der islamischen Revolution interessieren sollte, ist, dass sie das gängige Argument, die "Islamisten" im Iran und anderswo würden den Islam bloß benützen, in Wahrheit ginge es nicht um den Islam, sondern um andere (zum Beispiel machtpolitische, ökonomische, "imperialistische") Zwecke, ad absurdum führen.

Hätten wir es "lediglich" mit Vergewaltigung zu tun, könnten Argumente wie die folgenden vielleicht Anspruch auf Gültigkeit erheben: "Es geht hier um ein machtpolitisches Kalkül, das mit dem Islam nichts zu tun hat. Indem die Machthaber selbst dafür sorgen, dass Informationen über die Vergewaltigungen an die Öffentlichkeit gelangen, festigen sie ihre Macht durch die Verbreitung von Angst und Schrecken", oder: "Die Wächter 'missbrauchen den Islam', um ihre Gelüste zu befriedigen", et cetera, et cetara.

Hier geht es aber offensichtlich um die Lösung eines kniffligen theologischen Dilemmas: Wie lässt es sich verhindern, dass Frauen als Jungfrauen sterben, ohne gegen die Gesetze der Religion zu verstoßen? Die für die Vergewaltigungen und Exekutionen Verantwortlichen waren und sind keine – oder nicht bloß – zynische Machtpolitiker, sondern gläubige Moslems. Wären sie nichts als zynische Machtpolitiker, wäre ihnen die Überlieferung, wonach Jungfrauen nach dem Tod ins Paradies kommen, gleichgültig. (Sama Maani, 6.9.2017)

Fortsetzung folgt

¹ Frei übersetzt aus Marie-Jean-Antoine-Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet, Outlines of an historical view of the progress of the human mind, being a posthumous work of the late M. de Condorcet.  Philadelphia: M. Carey, 1796. S. 258

² Vgl. zum Beispiel:  

³ Ezat Mossallanejad, Gender, Culture and Identity. In Haideh Moghissi (Hrsg.), Muslim Diaspora, Routledge 2006, S. 75-76

⁴ "O Prophet, Wir erlauben dir deine Gattinnen, denen du ihre Mitgift gabst und die Sklavinnen [...] von dem, was dir Allah als Beute gab.“ Max Henning, Der Koran. Aus dem Arabischen übertragen, Stuttgart 1960, S. 406, Sure 33, Vers 50.

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