Schaut aus und fühlt sich genauso an wie der antike Teil des Kameels. Ist aber die nagelneue Erweiterung.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Der handgeschnittene Beinschinken mit zart gelierter Marinade, Eierschwammerl und punktgenau pochiertem Wachtelei ist hinreißend gut.

Foto: Gerhard Wasserbauer

Na bravo: Kaum ist die schwindlige Kaffeehauskulisse des Griensteidl bei der Fiaker-Latrine Michaelerplatz endlich abgewrackt und durch ein (auch kulinarisch) erfrischendes Provisorium ersetzt, da geht es ein paar hundert Meter weiter wieder los: Das Schwarze Kameel in der Bognergasse, den Schnöseln und Gigerln zum Trotz das vielleicht schönste wienerische Lokal der Stadt, hat sich um die Flächen der Campari-Bar (zuvor ein Zuckerlgeschäft) und der Kameel-Delikatessenhandlung vergrößert.

Die einstige Weinstube beansprucht nunmehr die gesamte Länge des Hauses. Und zwar auf schamlos historisierende Weise, welche die neuen Flächen so in das mit Art-déco-Fliesen und -Reliefs, Säulen und Schnoferl-Kellnern sowie allerhand schleifglasigen und intarsierten Raumteilern ausgestattete Gesamtkunstwerk integriert, dass man auch auf zweiten Blick glauben will, alles wäre schon seit 100 Jahren und mehr genau so gewesen.

Haltung gefunden

Die Freilichtmuseumsanmutung der Innenstadt hat damit noch ein Schaumrollenkrönchen aufgesetzt bekommen. Offenbar brauchen das die Wiener ebenso, wie es den Touristen taugt, wenn sie aus ihren echten Städten zu uns auf Besuch kommen. Im konkreten Fall ist man dennoch geneigt, den Betrug an der Gegenwart zu verzeihen. Das Kameel wirkt plötzlich, als hätte es erst jetzt seine endgültige Form und Haltung gefunden.

Die Täuschung gelingt dank der Kunst ausgesuchter Stuck-, Keramik-, Tischlerei- und, natürlich, Gastronomiehandwerker. Was aber mindestens so beeindruckt, ist die souverän gestreckte Erscheinung und Transparenz: Plötzlich ist der Durchblick von der Bogner- zur Naglergasse möglich, die alte Zweiklassengesellschaft zwischen Clubraum und Restaurant aufgehoben. Das Lokal erscheint von außen wie innen imposant, erwachsen, aber auch luftiger, eleganter. Jederzeit möchte man glauben, dass hier schon seit je mehr oder minder elegant parliert, jedenfalls aber diniert wurde.

Die Brötchen aus der Vitrine sind unverändert gut, der Weinkeller ist tief und für den hehren Ort fair kalkuliert. Die Küche versucht seit Jahren, Wiener Klassik mit einer verspielten Linie zu kombinieren. So sehr Ersteres mit Beständigkeit, Sicherheit und, ja, Eleganz gelingt, so sehr scheint auf der anderen Seite ein seltsam ungelenkes Bemühen um kulinarischen Firlefanz vorzuherrschen.

Was etwa als "Paradeiserraritäten mit geschmorten Limonen-Kräuterseitlingen und Reisschaum" angekündigt wird, entpuppt sich als heftig geliertes weißes Tomatenmousse in einer Petrischale (?). Die Pilze und das zuckrige Schäumchen dürfen sich ein weiteres Laborgeschirr teilen – viel Brimborium für etwas, das eine geradlinige, auf Produkt und Saison fokussierte Vorspeise hätte sein können. Auch die vegetarische Hauptspeisenoption mit geräuchertem Kürbis, Currypüree, Linsen und Pak Choi wirkt wie eine eher ratlose Anhäufung verschiedener Komponenten, denen mit ordentlich Schäumchen die Anmutung einer Kreation gegeben werden soll.

Wien können

Wer hingegen wienerisch soigniert essen will, ist hier richtig. Okay, die Grießnockerlsuppe ist versalzen, dafür ist der handgeschnittene Beinschinken (siehe Bild) mit zart gelierter Marinade, Eierschwammerl und punktgenau pochiertem Wachtelei hinreißend gut. Auch das Wiener Schnitzel ist hohe Schule, ideal souffliert, saftig, butterschmalzig, dazu gibt's nicht gezuckerten Erdäpfel-Vogerlsalat – selten und gut. Hinterher muss man auf Arme Ritter hoffen: Aus Brioche geschnitten, unfassbar cremig und doch wundersam knusprig in Butter karamellisiert. Hollerröster dazu, und diese perfekte Fälschung des Himmels von Wien hängt für einen Moment voller Geigen. (Severin Corti, RONDO, 8.9.2017)

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Google-Map "Restaurantkritiken 2017 von Severin Corti und Alex Stranig"