Sebastian Kurz und Viktor Orbán: Der Außenminister sagte im TV-"Sommergespräch", er kritisiere den ungarischen Ministerpräsidenten leise. Öffentlich wird diese Kritik jedenfalls nicht.

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Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Minderheitenrechte – das ist das Fundament, auf dem die Europäische Union und auch Österreich aufgebaut sind. Sie ist daher nicht nur Wirtschafts- und Währungsunion. Sie ist auch eine Wertegemeinschaft.

Das bedeutet, dass nicht nur eine Finanzkrise die Europäische Union erschüttern, sondern auch eine kontinuierliche Erosion dieser gemeinsamen Werte die Union gefährlich schwächen kann. Gerade ein gemeinsames Verständnis davon, in welcher Gesellschaft wir leben wollen und was uns als Gemeinschaft auszeichnet, ist in Zeiten großer, globaler Herausforderungen essenziell.

Seit es Marine Le Pen nicht gelungen ist, die Macht in Frankreich zu übernehmen, schwindet die Furcht vor einem weiteren Erstarken rechtspopulistischer Kräfte in der EU. Zu Unrecht! Glutnester nationalistischen, autoritären Gedankenguts glosen in den Regierungen oder politischen Bewegungen so mancher EU-Staaten. Die Proponenten schlafen nicht und haben schon Erfolge zu verzeichnen: Heute streben Viktor Orbán in Ungarn und Jaroslaw Kaczynski in Polen eine autoritäre Art der repräsentativen Demokratie, illiberalen Demokratie an. Die Pressefreiheit wird eingeschränkt, die Unabhängigkeit der Justiz ausgehöhlt und Machtkontrolle durch die Gewaltenteilung aufgehoben. Illiberale Kräfte sind geduldig, sie warten, sie sägen kontinuierlich an unserem gemeinsamen Europa.

Nun möchte man meinen, ein Außenminister Österreichs hätte eine klare Haltung gegenüber Politikern, die sich offen gegen Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte stellen. Doch wer genau hinhört, der hört: nichts.

Kurz kritisiert nicht die starken illiberalen Tendenzen in Ungarn und Polen und die mit ihnen einhergehende Verletzung der Grundwerte der EU. Er belässt es aber auch nicht bei Passivität und Ignoranz gegenüber diesen klar antieuropäischen Kräften. Stattdessen findet er immer wieder verteidigende Worte für Orbán. Seine einzig rote Linie war bisher die Todesstrafe.

Und es bleibt nicht nur bei Orbán. In Mazedonien unterstützte der Außenminister die nationalkonservative Regierungspartei VMRO-DPMNE beim Wahlkampf – eine Partei, die für die Aushöhlung demokratischer Institutionen, Wahlfälschungen, Korruption, eine Abhöraffäre und die Gängelung der Medien verantwortlich ist. Eine solche Unterstützung eines "autoritären Torwächters" ließ jegliches Bekenntnis zur Rechtsstaatlichkeit vermissen.

Kurz sucht aktiv die Nähe zu den Machthabern der Visegrád-Staaten und stellt sich damit gegen eine gemeinsame europäische Lösung der Flüchtlingskrise, wie er sie anfangs selbst noch einforderte. Ohne Rücksprache mit Brüssel organisiert er die vermeintliche "Schließung der Westbalkanroute" und lässt in Orbán-Manier unseren italienischen Nachbarn ausrichten, er verlange, die Überführung illegaler Migranten von den italienischen Inseln wie Lampedusa auf das Festland zu unterbinden, und droht mit der Schließung der Brennergrenze. Er lässt damit einen wichtigen Partner fallen.

Zweierlei Maß

Doch halt, ein Bruch in der Logik: Gegenüber der Türkei verurteilt Kurz, was er bei Freunden akzeptiert. Österreich war einst bekannt und respektiert für seine vermittelnde Außenpolitik. Heute stößt der österreichische Amtsinhaber langjährige Partner vor den Kopf und beschädigt dieses Ansehen. Wer bereit ist, dieses dem einige Monate dauernden Wahlkampf zu opfern, ist nicht fit für die Verantwortung des Amtes des Bundeskanzlers.

Innenpolitisch äußert sich Kurz sprachlich verträglicher als die FPÖ, aber ebenso laut, schlagkräftig und kurzatmig. Er kritisiert, ohne Lösungen zu präsentieren. Oder er gaukelt einfache Lösungen vor. Dabei wählt er jene Themen, die am leichtesten emotionalisieren, und wählt dazu die einfachsten Feindbilder: Asylwerber, Ausländer, Muslime. Er lenkt damit von den wahren Problemen ab, die seine Partei in den vergangenen Jahrzehnten in der Regierung nicht zu lösen vermochte.

Auch hier fehlen jene Werte, die sich Europa einst auf die Fahnen geschrieben hat, um den Kontinent zu einem einigeren, einem freieren, einem friedlicheren Ort zu machen. Rechtsstaatlichkeit ist kein leeres Wort. Sie soll die Menschen vor Willkür und Gewalt schützen. Dazu kommen die Grund- und Menschenrechte, die die Freiheit aller Menschen, die in einem Staat leben, sichern sollen. Eine Erosion der europäischen Werte darf nicht unwidersprochen bleiben.

Die Nationalratswahl bestimmt nicht nur unser politisches Schicksal der nächsten Jahre, sie ist auch eine Europawahl, denn die nationalstaatlichen Regierungen entscheiden über die nächsten Schritte der Europäischen Union. Am 15. Oktober geht es darum zu sagen: Unsere Welt ist eine Welt der Freiheit, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, der Menschenrechte innerhalb und außerhalb Österreichs. (Stephanie Krisper, 6.9.2017)