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Ein ungarischer Soldat bewacht die Transitzone an der Grenze zu Serbien. Budapest fordert von der EU eine Kostenbeteiligung bei den Grenzschutzanlagen – Flüchtlinge will es aber nicht aufnehmen.

Foto: AP / Sandor Ujvari

Vor fast genau einem Jahr hat der ungarische Premierminister Viktor Orbán in Wien bei einem Balkangipfel ausgewählter Regierungschefs seine persönlichen Motive dargelegt, warum er beim Thema Flüchtlingsverteilung nach Länderquoten eine derart harte Haltung einnimmt. Seine konservative Regierung hatte dagegen – neben der des sozialistischen Premiers Robert Fico aus der Slowakei – beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg geklagt.

Ungarn bleibt auch nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs bei seiner Linie. Die Regierung will die vorgeschriebenen 1294 Flüchtlinge nicht aufnehmen, erläutert die Politikwissenschaftlerin Melani Baralai.
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Er fühle sich von seinen Kollegen in Europa "gelegt", schäumte Orbán. Diese hätten ihn bei einem EU-Gipfel schon vor dem Sommer 2015 bewusst "getäuscht", als es um die Lastenverteilung bei der Versorgung von Flüchtlingen gegangen sei. Nicht einmal, nein, "gleich zweimal" sei ihm versichert worden, dass kein EU-Land bei diesem heiklen Thema überstimmt werde. Daher werde er die von der EU-Kommission errechnete Quotenregelung (siehe Grafik) mit allen Mitteln bekämpfen.

Kurzfristige Entspannung

Orbáns Auftritt war eine Schlüsselszene. Zu diesem Gipfel hatte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) geladen, um die Atmosphäre in Sachen Migration zu entspannen. Auch Angela Merkel war angereist, für die EU-Kommission Innenkommissar Dimitri Avramopoulos. Also waren alle Kontrahenten, die sich seit Zuspitzung der Flüchtlingskrise im Sommer 2015 wechselseitig heftig attackiert hatten, versammelt. Die Stimmung war gut. Man versicherte einander, ab nun konstruktiv zusammenzuarbeiten.

Wie wenig das bis heute der Fall ist, wie langsam die EU in der Migrations- und Flüchtlingspolitik vorankommt, das wurde am Mittwoch durch ein Erkenntnis des EuGH mehr als deutlich. Die Richter lehnten die Klage Ungarns und der Slowakei "in vollem Umfang" ab. Die beiden Staaten seien verpflichtet, die im EU-Innenministerrat Mitte September 2015 mit qualifizierter Mehrheit beschlossene Verteilung von 120.000 (geprüften) Asylwerbern aus Italien und Griechenland auf die übrigen Mitglieder umzusetzen.

Es sei klar, dass diese Maßnahme geeignet sei, die beiden am meisten belasteten Staaten zu entlasten, argumentiert der EuGH. Ungarn, die Slowakei, Rumänien und Tschechien waren damals im EU-Ministerrat überstimmt worden. Bereits im Mai davor war eine erste Tranche von 40.000 Flüchtlingen zur Umsiedlung vereinbart worden. Ungarn hätte 54.000 Asylwerber zur Relocation anmelden können, verzichtete aber darauf. Überraschend war das EuGH-Urteil nicht. Schon vor drei Monaten hatte der Generalanwalt des Höchstgerichts in diese Richtung plädiert: Die Rechtslage sei eindeutig, hieß es.

Polen auf der Seite der Kläger

Interessantes Detail: Polen plädierte im Verfahren für die Kläger, Deutschland, Frankreich, Belgien, Schweden neben anderen für den Rat der EU. Die Regierung Orbán will nun weiter gegen das Urteil vorgehen. Ihr droht bei Nichtumsetzung des Urteils eine hohe Geldstrafe. Orbáns Argument, ihm sei "politisch" etwas versprochen worden, zählt nicht.

Dabei muss man ihm zugutehalten, dass er als einer der Ersten vor den Folgen großer Migrationsströme warnte. Beim EU-Gipfel im Juni 2015, als alle auf den möglichen Ausschluss Griechenlands aus dem Euro (Grexit) starrten, wurde er von Merkel ignoriert. Damals wollte sie nicht über Korrekturen des Dublin-Systems zur Asylordnung und zum Schutz der EU-Außengrenzen reden.

Kein Zufall, dass Orbán zuletzt bei der EU-Kommission ansuchte, die Union möge die Hälfte der Kosten für Grenzbefestigungen an der EU-Außengrenze übernehmen, mehr als 800 Millionen Euro. Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker lehnt dies ab, erinnerte Orbán daran, dass Solidarität eine "Zweibahnstraße" sei. EU-Mitglieder seien an rechtsstaatliche Beschlüsse gebunden. Der Streit dürfte weitergehen. Außenminister Péter Szijjártó erklärte, die "wahre Schlacht" gegen das EU-Umverteilungssystem würde erst jetzt beginnen. (Thomas Mayer, 6.9.2017)