Mit Erde, Wasser, Blut und Staub kommt das Ensemble intensiv in Berührung, u.a. Sabine Haupt und Katharina Lorenz (v. li.).

Foto: Georg Soulek/Burgtheater

Wien – Thomas Köcks Drama "paradies fluten" stimmt uns Mitteleuropäer mit großem Nachdruck auf die Zukunft ein. Die gute Nachricht: In rund eineinhalb Milliarden Jahren hat es die Sonne, unser braves Zentralgestirn, endgültig überstanden. Nach Durchlaufen diverser Übergangsfristen bläht sich der Feuerball noch einmal übermäßig auf, ehe die Erde auf ihn hereinfällt. Jede Form von Erinnerung hat dann, allein schon der kolossalen Hitze wegen, für immer ausgedient.

Im Wiener Akademietheater nimmt man, solcher Spekulationen sei Dank, die ein wenig fragwürdige Position des "letzten Menschen" (Friedrich Nietzsche) ein. Vom Schnürboden rieselt und tropft das Wasser der Sintflut. Eine Zeltplane hängt wie eine lockere Schlinge herab; sie ergibt bei diskreter Spannung auch eine formschöne weiße Zirkuswand (Ausstattung: Thea Hoffmann-Axthelm).

Wörter wie "Shit"

Vor dieser pompösen Kulisse wird die Menschheit auf die Anklagebank gerufen. Zwei Schicksalsgöttinnen in Ruhe (Sabine Haupt, Alina Fritsch) queren barfüßig, mit goldenem Fließhaar, die ramponierte Bühne. Minutenlang darf man sich ihrer stillen Stechschritte erfreuen wie der Wachablöse am Moskauer Lenin-Mausoleum. Wörter wie "Shit" fallen diskret.

Doch so beschaulich kunstgewerblich darf der Abend nicht bleiben. Köck ist der neue Hansdampf in allen Dramaturgieküchen. Nach dem vermeintlichen Endsieg des Neoliberalismus, mit dem Überhandnehmen des Marktgeredes, ist es endlich an der Zeit, den Finger an die Wurzel des Übels zu legen.

Köcks Stück kennt denn auch keine Schauplätze, sondern nur noch Symbolorte: Handelsplätze, an denen der Sprach- und Rechtfertigungsmüll der Globalisierung die Besitzer (und die Nachplapperer) wechselt. Ein Wortstrom treibt ungebremst vorüber, unter Blitzezucken und Wasserflimmern. Erinnerungen an die Menschheit werden angespült, und es gereicht diesem unfassbar altklugen Abend zur Ehre, dass erfahrene Deklamatorinnen wie Elisabeth Orth die Wortmassen zu bändigen verstehen.

Marktlatein flöten

Ist erst die fette Heimaterde rituell verstreut, lassen sich auch die Gesichter trefflich mit Rote-Rübensaft beschmieren. Sind die "aufgescheuchten Erinnerungen" verklungen, darf sogar eine vierköpfige Familie ihr verhältnismäßig individuelles Leid beklagen.

Papa (Peter Knaack) wirft sich zum Inhaber einer Kfz-Werkstätte auf. Seine Gemahlin (Katharina Lorenz) kann das ihr drohende Unglück (Bankrott!) kaum fassen. Sogar die Sippen werden dem Markt zum Fraß vorgeworfen. Wie ein Zauberlehrling mit Elfriede-Jelinek-Abschluss klappert der Jungdramatiker die Hitzezonen der Weltmärkte ab.

Markt, Natur, Kapitalzirkulation, Wertschöpfung: Alles hängt mit allem naturgemäß zusammen. Und so folgt man Robert Borgmanns Inszenierung bereitwillig nach Manaus (Brasilien), wo ein offenbar bei Werner Herzog entliehener "Fitzcarraldo"-Architekt (Philipp Hauß) ein Opernhaus im Regenwald errichten soll. Die Erste Welt giert nach Sturzbächen von Kautschuk. Eine kuriose Kolonialherrin (Sylvie Rohrer) flötet Marktlatein. Ein indigenes Mädchen (Marta Kizyma), eben noch als barbusige PR-Betriebsnudel der 1990er im Ganzkörpereinsatz, wird geschunden und gequält.

Papa ist dement

Köck gebietet über eine erstaunliche Sprachmacht. Nur möchte er nicht unbedingt beim Wort genommen werden. Also reden seine "Figuren" so, wie einem durchschnittlichen Prosaschreiber der Schnabel gewachsen wäre. Sie gewinnen über sich selbst Aufschluss, indem sie gegenüber der eigenen Aussagehaltung einen Sicherheitsabstand wahren.

Am Ende der Erstaufführung von "paradies fluten" (Untertitel: "verirrte sinfonie") hat man daher berückende Arien gehört (von Bibiana Nwobilo). Man hat einmal mehr die herrlich widerborstige Schamlosigkeit von Aenne Schwarz (als "Tochter") bewundert. Der Papa ist dement, alles Kautschuk ist verflossen. Man hat Rokoko-Kostüme bewundert und sich einige Male gefragt: Wen soll dieser ungemein begabt sein wollende Abend eigentlich mitreißen? Doch da war die Sintflut schon vorüber. Ein ganz kleiner Stern ging auf. Das Publikum war es überwiegend zufrieden. (Ronald Pohl, 10.9.2017)