Wer schon einmal im Neunerhaus im fünften Bezirk in Wien war, kennt sie: die lange Schlange, die sich jeden Morgen am Eingang zu unserer Zahnarztpraxis und unserer allgemeinmedizinischen Arztpraxis bildet. Hier versorgen wir obdachlose Menschen – egal ob versichert oder nicht. Jeden Tag in der Früh wird hier sichtbar, dass wir ein Problem haben: Der österreichische Sozialstaat ist zwar gut – hat aber Lücken.

Kürzlich präsentierte die Liste Kurz ihr Wahlprogramm. Darin wird vorgeschlagen, jegliche Sozialleistungen für EU-Bürger und Bürgerinnen (im Programm "EU-Ausländer") zu streichen, sofern sie sich unter fünf Jahren in Österreich aufhalten. Damit reißt Kurz nicht neue Lücken in den Sozialstaat und die EU – sondern er formuliert einen Angriff auf seinen und ihren Kern. Sind hier in Österreich lebende EU-Bürger und -innen Teil unserer Solidargemeinschaft?

Stellen Sie sich vor, Sie sind Teil der größten Gruppe an EU-Bürgern und -innen in Österreich: Sie sind deutsche/-r Staatsbürger/ -in. Sie ziehen mit Ihrer Familie nach Österreich. Ihre Kinder gehen zur Schule – und dann werden Sie arbeitslos. In diesem Fall würden Sie weder Arbeitslosengeld, Wohn- noch Familienbeihilfe, Mindestsicherung oder gar Zugang zu einer Genossenschaftswohnung erhalten. Eventuell noch schlimmer: Im Fall einer Krankheit wären Sie und Ihre Kinder nicht versichert. Sie wären ausschließlich auf eigenes Erspartes und Ihr persönliches soziales Netz angewiesen.

Gefährliches Glücksspiel

Was Kurz also will, ist aus der – nicht zuletzt von der ÖVP erkämpften – EU-Freizügigkeit eine der schärfsten Armutsfallen Europas zu machen. Selbst für Angehörige der Mittelschicht würde es dann ein gefährliches Glücksspiel werden, in ein anderes EU-Land zu gehen. Schützt man so sein "Sozial"-System?

Am härtesten würden die vorgeschlagenen Maßnahmen aber jene Menschen treffen, die bereits jetzt am Rande des Existenzminimums leben. Viele von ihnen kommen aus EU-Ländern und sind in ganz Europa, in Paris, Berlin und auch Wien, auf der Suche nach Arbeit. Oft werden sie in Schwarzarbeit gedrängt. Sie schließen unsere Lücken: in der Gastronomie, der privaten Kinderbetreuung und Pflege, in der Reinigung und am Bau. Werden sie krank oder haben sie einen Arbeitsunfall, erfahren sie oft erst beim Arzt vor Ort, dass ihre E-Card doch nicht funktioniert und dass ihr Arbeitgeber sie nicht angemeldet hat.

Was es dann braucht: langfristig wirkende Hilfe, Hilfe zur Selbsthilfe – Lebens- und Wohnperspektiven. Sonst verfestigen sich Krankheiten, Armut und Obdachlosigkeit. Perspektiven zu geben gelingt in prekären Situationen der Not aber nur, wenn es möglich ist, Ansprüche auf Sozialleistungen geltend zu machen. Genau das würde laut dem Vorschlag von Sebastian Kurz aber nicht mehr möglich sein.

Was Kurz vorschlägt, bedeutet einen Angriff auf den Sozialstaat genauso wie auf die EU. So verfestigt man Armut, so schafft man Grundwerte Europas ab. Nein, Herr Kurz, die Einzige, der diese Politik hilft, ist die lange Warteschlange jeden Morgen vor der Neunerhaus-Arztpraxis. (Markus Reiter, 11.9.2017)