Choreograf Boris Charmatz mit tanzendem Publikum beim einleitenden "Public Warm-up" auf dem Flugfeld Tempelhof.

Foto: Barbara Braun

Das kulturpolitische Vorspiel war ein gehässiger Hexentanz, doch am Sonntag hat der nun erste Akt der neuen Volksbühne Berlin unter der Leitung von Chris Dercon (59) begonnen. Der Start erfolgte nicht auf den Brettern des Hauses am Rosa-Luxemburg-Platz, sondern auf dem Asphalt des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Zehn Stunden Fous de danse mit durchgehendem Programm vor mehr als 15.000 Besuchern.

Befreiungsakt

Für manche war das ein Akt der Befreiung, doch damit sind die Auseinandersetzungen wohl noch nicht ganz beigelegt. Zur Erinnerung: Vor zwei Jahren wurde Dercon – er leitete damals die Londoner Tate Modern – zum Nachfolger des Regietheater-Haudegens Frank Castorf ernannt, der die Volksbühne dann noch bis zum Ende der vergangenen Spielzeit geführt hat: insgesamt ein Vierteljahrhundert lang. Der darauffolgende "Kulturkampf" hat viel mit der speziellen Geschichte der deutschen Hauptstadt zu tun, und er wurde auch von den Verunsicherungen durch die globale Wende nach der Wiedervereinigung 1989 angeheizt.

Parallel zur hektischen Medienrevolution seit den Neunzigern gab es auch in den darstellenden Künsten einen – ruhiger verlaufenden, daher lang unterschätzten – Paradigmenwechsel hin zu hybriden performativen Werken. Diese entsprechen in ihren unterschiedlichen Herkünften aus dem Tanz, der bildenden Kunst, Theater oder Musikaufführung den gemischtkulturellen europäischen Gesellschaften der Gegenwart offenbar am besten.

Performancemarathon

Der Belgier Chris Dercon hat das erkannt und will offenbar den Berlinern, aber auch dem übrigen urbanen Europa vorführen, wie eine echte "Volksbühne" für das komplizierte Heute aussehen kann. Der "tanzverrückte" Performancemarathon unterm freien Himmel über Berlin und dem Tempelhofer Flugfeld war von einer so einladenden Leichtigkeit, dass sich seine komplexen ästhetischen und historischen Hintergründe nicht allzu wichtig machen konnten.

Fous de danse war das Werk von Boris Charmatz (44). Er gehört zu den radikalsten Choreografen Frankreichs und wird heute zu den führenden zeitgenössischen Tanzschaffenden Europas gezählt. In seinem Auftaktprogramm verband er unter anderem den türkischen Tanz des Stuttgarter BEM Folk Dance Ensemble mit Isadora Duncans amerikanischer Frühmoderne, Urbanen Tänzen, Club Culture und ausgefeilt kunstreferenziellen Arbeiten. Und William Forsythes Ballett mit Alex Murray-Leslie von Chicks on Speed. Oder das zersplitterte Solo Displacement des syrischen Choreografen Mithkal Alzghair mit Anne Teresa De Keersmaekers perfekter Violin Phase.

Durch den gesamten Ablauf zog sich ein virtuos komponierter historischer Diskurs. Auftritte von Kindern und Jugendlichen waren so häufig gesetzt, dass die damit verbundene Botschaft gar nicht zu übersehen war: Die Gegenwart lädt den Youngsters das Gepäck der Vergangenheit auf. Kinder in einer speziellen Interpretation von Le sacre du printemps, im Fantasiegarten des klassischen Balletts Le Corsaire und beim Hip-Hop bis hin zu Jugendlichen in einem "Fotoroman" der Tanzgeschichte. Lucinda Childs' nicht mehr ganz so junge Nichte Ruth (33) rekonstruierte Frühwerke ihrer berühmten Tante (77) aus den 1970er-Jahren. Diese wiederum haben die ersten Arbeiten von De Keersmaeker beeinflusst, die am Ende des Marathons zusammen mit Charmatz ein Duett aus ihrem Stück Partita 2 tanzte.

Publikum aktiv dabei

Charmatz zeigte, wie wirksam künstlerische Einflüsse auf Kunstschaffende sind, und er ließ das Publikum aktiv teilhaben. Für ihn war das kein partizipatorischer Spaß, sondern Arbeit am und mit dem kollektiven Gedächtnis – gleich zu Beginn mit "öffentlichem Aufwärmen" als körperlicher Zeitreise, dann verschiedenen Formen von "Social Dance" zwischen Voguing und Krump, später beim Eintauchen in eine Konfliktzone.

Anspielungen auf den Konflikt mit Frank Castorf gab es übrigens kaum, außer vielleicht in einem lautstarken Solo der Tänzerin Johanna Lemke mit Textzitaten aus Eugène Ionescos Die Nashörner. Die Feinheit dabei: Ionesco war das Thema von Castorfs Diplomarbeit 1976 an der Humboldt-Uni.

Diese und nächste Woche sind zwei weitere Arbeiten von Boris Charmatz zu sehen, A Dancer's Day und danse de nuit. Letztere war vergangenen April auch im Tanzquartier Wien zu sehen. Ende September wird die Iphigenie der Syrer Omar Abusaada und Mohammed Al Attar – die auch bei den Festwochen 2017 vertreten waren – uraufgeführt, und im Oktober rappt Kate Tempest. Das alles findet in einem Tempelhof-Hangar statt. Erst im November öffnet das Haus am Rosa-Luxemburg-Platz mit einem Abend, an dem Einakter von Samuel Beckett mit Werken von Tino Sehgal untermischt werden. (Helmut Ploebst aus Berlin, 11.9.2017)